Klassismus, sexueller Identität, mentaler Gesundheit

#1 von carlos , 18.04.2023 23:04

Alles beginnt mit einem abgedrehten Job. Der allein hätte schon für einen ziemlich soliden Roman gereicht. Denn Greta, die Protagonistin in Jen Beagins »Big Swiss«, transkribiert stundenlang und nur in der Gesellschaft ihres kleinen Terriers die Mitschnitte eines Sextherapeuten. Sie tippt, was die Patientinnen und Patienten Om – ja, er heißt wirklich Om, Erleuchtung in Indien und so weiter – erzählen. Und das ist allerhand, vor allem, weil in dieser US-amerikanischen Kleinstadt, und das ist nicht ableistisch gemeint, nur Verrückte leben. Weil Greta bloß die Initialen der Patienten kennt, weiß sie nicht, wer Om besucht. Doch häufig erkennt sie die Stimmen anschließend wieder. Jen Beagin hat sich mit »Big Swiss« aber mehr vorgenommen, als das Bettgeflüster von verhaltensauffälligen Kleinstädtern zu dekonstruieren. Vor dem Panorama von Oms Therapiesitzungen, Klangbändern und Atemübungen erzählt Beagin eine wunderbar komplexe Liebesgeschichte.

Gretas einsamer Transkriptionsalltag wird nämlich recht rasch durch Big Swiss, der titelgebenden Figur, umgewälzt. Die hatte dem Therapeuten mit einer Stimme, an der man »mit dem Pulli hängen bleiben oder sich einen Zahn abbrechen« konnte, berichtet, dass sie keine Orgasmen bekam. Und vor acht Jahren von einem Mann so verprügelt wurde, dass sie nur knapp mit ihrem Leben davonkam.
»Traumamenschen finde ich fast so unerträglich wie Trumpmenschen.«

Das Arschloch sitzt seitdem im Knast, soll aber bald entlassen werden. Und Big Swiss – so nennt Greta die Patientin insgeheim, weil sie aus der Schweiz kommt und so schön und groß sein muss, dass Om sich verhaspelt – hält das Trauma stets eine Armlänge von sich fort, sie nennt es nicht mal so. »Traumamenschen finde ich fast so unerträglich wie Trumpmenschen«, ätzt sie, »wenn man ihnen rät, sie sollen ihr Leiden und ihren Opferstatus aufgeben, tun sie, als würde man ihnen ein neues Trauma zufügen.«

An der Gynäkologin perlen Gefühle ab wie Olivenöl an Teflon. Sogar ihre eigenen. Sie will die Macht über ihre Geschichte nie wieder abgeben. Natürlich ist klar, dass sie das muss, so funktioniert das Leben manchmal. Beagin legt die Konflikte gleich zu Beginn wie geladene Pistolen aufs Tableau. Als Leserin wartet man atemlos, wer zuerst abdrückt. Auch deshalb kann man den Roman kaum zur Seite legen. Vor allem aber sind es die beiden Frauenfiguren, die Beagin so verschroben und gegen Eindeutigkeiten anstrampelnd anlegt, die den Roman lesenswert machen.
Nicht alle Traumata können durch Duftkerzen »heilen«

Als Greta Big Swiss’ Geschichte hört, ist sie schockiert und fasziniert gleichermaßen. Vielleicht, weil ihre eigenen Traumata wie Sandsäcke auf den Schultern liegen. Ihre Mutter – Beagin entblättert die Geschichte behutsam nach und nach – brachte sich um, als Greta 13 Jahre alt war. Zuvor hatte deren Schwermut das Zuhause so vernebelt, dass Greta ihre Zimmertür abdichtete, um überhaupt atmen zu können. Die Teenagerin wuchs schließlich bei verschiedenen Tanten auf. Aber ihre Kindheit hat sie auch mit 45 Jahren nicht verkraftet. Und vielleicht wird sie das nie. Beagin schönt hier nichts. Auch wenn Hobbypsychologinnen auf Instagram anderes behaupten, nicht jeder kann durch Duftkerzen »heilen«. Im Gegensatz zur vermögenden Big Swiss könnte Greta sich die (oder eine Therapie) nicht mal leisten. Sie ist so arm, dass sie die zersprungenen Fenster ihres alten Farmhauses mit Tape klebt. Auch wenn Beagin keines dieser Buzzwörter benutzt, natürlich geht es in ihrer Geschichte auch darum, wie Klassenunterschiede und mentale Krankheiten Beziehungen durchdringen. Und mitunter zersetzen.
Und was hat das alles nun mit Liebe zu tun? Obwohl Big Swiss mit einem Mann verheiratet ist, verliebt sie sich in Greta, als sie ihr im echten Leben begegnet. Dabei hat Greta natürlich alle Mühe, Big Swiss nicht mit deren Geheimnissen zu konfrontieren. Schließlich darf die nie erfahren, dass Greta um ihre Therapiestunden weiß. Die Transkripte arrangiert Beagin clever zu einer zweiten Erzählperspektive, sodass man (und Greta beim Tippen) die Entwicklung des queeren Begehrens auch aus der zweiten Perspektive betrachtet. Das ist stilistisch so interessant, dass der Roman auch deshalb lohnt.

Beagin, die in den USA schon für ihre beiden vorigen Bücher gelobt wurde, erzählt die Geschichte visuell satt. Das sterile Haus von Big Swiss und das mehr und mehr zerfallende von Greta sieht man so dreidimensional vor sich, als sei man selbst mit den beiden Frauen da. Deshalb kann man den Bieterkampf um die Filmrechte nachvollziehen, der bereits vor Erscheinen des Romans ausgetragen wurde. HBO gewann. Man braucht nicht gerade viel Fantasie, um sich eine opulent produzierte Mini-Serie vorzustellen. Übrigens muss Big Swiss, die eigentlich Flavia heißt, mit dem erneuten Kontrollverlust über die eigene Geschichte leben. Auch die Liebe macht einen eben zum Opfer.

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RE: Klassismus, sexueller Identität, mentaler Gesundheit

#2 von carlos , 18.04.2023 23:05

Beagin, Jen
Big Swiss
Verlag: Atlantik
Seitenzahl: 448

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RE: Klassismus, sexueller Identität, mentaler Gesundheit

#3 von carlos , 18.04.2023 23:05

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