Ein Famulaturbericht von Nina Sickenberger und Anja Stengele
Bereits zu Beginn unseres Studiums hatten wir den Wunsch, im klinischen Studienabschnitt eine Famulatur zu absolvieren. Wir informierten uns im Internet über die verschiedenen Möglichkeiten und Organisationen. So wurden wir auf den gemeinnützigen Verein „Dental Volunteers e.V.“ aufmerksam und entschieden uns, gemeinsam mit der 1. Vorsitzenden des Vereins Frau Dr. Agnes Wagner und dem jungen Kölner Zahnarzt Dr. Jörg Slobodda, unsere Famulatur in den Semesterferien nach dem 9. Semester anzutreten.
Doch wohin soll die Reise gehen? Diese Frage beschäftigte uns eine ganze Weile. Die Entscheidung fiel schließlich auf Madagaskar – die „Rote Insel“ oder da wo der Pfeffer und Vanille wächst …
Madagaskar ist die viertgrößte Insel der Welt und die größte Insel Afrikas. Sie bezaubert durch eine einzigartige Natur und ist durch ihre spezielle Lage reich an endemischen Tieren und Pflanzen. Es wurden über die letzten Jahrzehnte zahlreiche Nationalparks ausgewiesen, um die dortige Natur zu schützen. Für Tier- und Naturfreunde ist es ein Paradies auf Erden, da es viel zu entdecken gibt.
Im Vorfeld gab es eine ganze Menge zu organisieren. Wir stellten Kontakte zu verschiedenen lokalen NGOs her, wir schrieben etliche Dentalfirmen an, um mit Materialspenden unterstützt zu werden (hierfür ein großes Dankeschön!), wir ließen uns impfen, informierten uns über Land und Leute, usw. Als alle Vorbereitungen erledigt waren und unser Flugzeug endlich Richtung Madagaskar abhob, waren wir erleichtert, voller Vorfreude und natürlich auch ziemlich aufgeregt vor dem, was uns erwartete.
Am Flughafen der Hauptstadt mit dem unaussprechlichen Namen Antananarivo (abgekürzt Tana) wurden wir von Madame Omega abgeholt und zu unserem ersten Projekt, dem „SOS Kinderdorf“ gebracht. Auf der Fahrt konnten wir erste Eindrücke vom Leben in Madagaskar sammeln, welches sich eindeutig auf der Straße abspielt. Am Straßenrand folgt ein Verkaufsstand auf den nächsten. Buntes Obst und Gemüse, gebrauchte Kleidung und Schuhe, Handys, Haushaltsgegenstände und Möbel werden zum Verkauf angeboten. Der Verkehr in der Hauptstadt ist katastrophal. Es ist keine Seltenheit, dass man für 15 km Fahrt 3-4 Stunden benötigt, da der Verkehr an vielen Stellen steht oder durch Zebu-Karren, Varambas oder liegengebliebene Autos blockiert wird.
Im SOS-Kinderdorf screenten wir zunächst die Kinder der angrenzenden Schule. Bei Bedarf behandelten wir diese und das Personal in einem uns zur Verfügung gestellten Raum im „Dispensaire“ (Krankenstation) in den folgenden Tagen.
Neben dem SOS-Kinderdorf arbeiteten wir in dem Straßenkinderprojekt „Manda“. Wir teilten dazu unsere Gruppe in zwei Teams auf. Der Zustand der Zähne der Straßenkinder war bedeutend schlechter als der im Kinderdorf und unsere Hilfe dort somit noch dringender.
Wir behandelten, wie in allen folgenden Projekten, unter sehr einfachen Bedingungen, da das nötige Equipment fehlte: Die Patienten legten sich zur Behandlung auf einen einfachen Tisch. Neben dem Tageslicht verbesserten wir die Sicht mit Hilfe von Stirnlampen. Absaugung, Spuckbecken oder Luftbläser standen uns nicht zur Verfügung. Trotz der bescheidenen Bedingungen merkten wir schnell, dass die Behandlungen auch ohne jeden Komfort durchzuführen waren. Wir mussten aufgrund der schlechten Zustände der Zähne hauptsächlich Extraktionen vornehmen. Wo es ging, erhielten wir die Zähne mit Füllungen. Daneben legten wir großen Wert auf die Prophylaxe. So zeigten wir den Kindern und Erwachsenen während unserer Putzdemos, wie man richtig Zähne putzt. Wir informierten sie über die Wichtigkeit unserer Zähne und über die Entstehung von Karies und verteilten Zahnbürsten und Zahnpasten. Zum Glück hatten wir meist einen hilfsbereiten Dolmetscher an unserer Seite, der vom Englischen oder Französischen ins Madagassische übersetzte. Im Laufe der Zeit erweiterten wir zwar unser madagassisches Vokabular um einige hilfreiche Worte, für ganze Sätze oder Erklärungen reichten unsere Kenntnisse jedoch leider nicht aus.
Wo wir auch hinkamen, war der Bedarf an zahnmedizinischen Behandlungen riesig. Die Leute liefen viele Kilometer bergauf und –ab, um sich ihre Zähne ziehen oder füllen zulassen. Sie warteten bereits morgens auf uns und gingen abends ohne Murren, auch wenn sie nicht behandelt werden konnten und den ganzen Tag gewartet hatten. Die Madagassen waren einfach nur froh, dass Zahnärzte gekommen waren und hielten die Behandlungen tapfer durch. Es war der Wahnsinn, wie die madagassischen Patienten trotz Schmerzen die Behandlung über sich ergehen ließen. Lediglich einige Kinder hatten Angst vor dem Zahnarzt und weinten vor und während der Behandlung – wer will es ihnen verübeln.
Über die Nationalstraße RN7 gelangten wir zu unserer zweiten Station in Fianarantsoa, wo wir mit der MISEREOR Partnerorganisation „VoZaMa“ zusammen arbeiteten. Deren Arbeit steht unter dem Motto „Bring die Schule in das Dorf“. Mit uns kam nun der Zahnarzt in das Dorf. Morgens wurden wir mit unserer zahnärztlichen Ausrüstung in ein entlegenes Dorf gefahren, wo wir unsere mobile Zahnarztpraxis meist unter freiem Himmel, da es in den Räumlichkeiten wegen fehlender Elektrizität zu dunkel war, aufbauten. Tische bekamen wir aus den Klassenzimmern. Da es in diesen Gegenden weit und breit keinen Zahnarzt gibt und die Bevölkerung zudem sehr arm ist, nahmen die Menschen oft lange Wege auf sich, um zu uns zu kommen. Ein Fußmarsch von 10 km einfach war keine Seltenheit – und das barfuß! Hauptsächlich kamen Kinder und Frauen, Männer hingegen nur selten. Leider blieb auch hier meist nur die Extraktion als einzige Behandlungsmethode, da es für Füllungen längst zu spät war. Da oftmals kein Zahnarzt verfügbar ist, müssen die Madagassen monate- bzw. jahrelang unter schrecklichen Zahnschmerzen leiden. Umso glücklicher waren wir, einigen davon ihre Leiden zu nehmen.
Eine abenteuerliche Off-Road-Fahrt sollte uns zu unserem nächsten Projekt in den 5000 Seelen Ort Manantenina an der Ostküste führen. In Madagaskar gibt es nur wenige geteerte Straßen, die zum Teil von Schlaglöchern übersät sind. Die meisten „Straßen“ sind jedoch Lehmbuckelpisten, die während der Regenzeit in wahre Rutschbahnen verwandelt werden. Da wir auf genau solchen unterwegs waren, benötigten wir 13,5 Stunden, um nur 50 km zurückzulegen. Trotz Vierradantrieb blieben unsere Geländewagen immer wieder in einem Matschloch stecken und mussten mühsam ausgegraben werden, wobei unsere Fahrer oft hüfthoch im Wasser standen. Da wir einige Flüsse überqueren mussten und wir die vorhandenen Holzbrücken in einem miserablen Zustand vorfanden, standen einige Reparaturen und ein „Beinahe-Absturz“ auf dem Programm. Nach 3 Tagen Fahrt erreichten wir endlich unser lang ersehntes Ziel: Der vergessene Ort Manantenina. Hier gibt es keine Elektrizität, keine Wasserversorgung und erst seit kurzem haben die Bewohner ein Mobilfunknetz. Um von hier in die nächste größere Stadt zu gelangen, muss man mindestens einen Tag und etwas Geld aufbringen. Es gibt ein kleines Krankenhaus, welches wir besichtigen konnten. Hätten wir nicht gewusst, dass es ein Krankenhaus ist, wir wären nicht von alleine darauf gekommen. Es ist quasi nichts vorhanden, alles ist schmutzig, alt und herunter gekommen. Das Wissen über die schlechte Gesundheitsversorgung der Menschen vor Ort stimmte uns sehr nachdenklich und traurig. Mit der madagassischen NGO „Voa Afafy“ brachten wir nun wenigstens zahnmedizinische Hilfe in dieses Dorf. Insgesamt extrahierten wir hier fast 1000 Zähne und machten etliche Füllungen. Genauso viele Zahnbürsten und Zahnpasten konnten wir an die Kinder dieses Dorfes verteilen. Untergebracht waren wir in einem ehemaligen, unbewohnten Missionarshaus aus der Kolonialzeit und wurden von Angestellten des Krankenhauses täglich köstlich bekocht und umsorgt. Als „Vazaha“ (Fremde, Weiße) waren wir die Attraktion. Oft verfolgten uns ganze Scharen, wenn wir durch den Ort liefen oder wir wurden interessiert begutachtet, während wir uns unterhielten. Doch alle waren sehr offen und freundlich uns gegenüber und lächelten und winkten uns zu. Wenn die Sprachkenntnisse beiderseits es zuließen, konnte man ein paar nette Worte wechseln.
Im Gegensatz zu Reisen als normaler Tourist hatten wir in Madagaskar viele Kontakte zu Einheimischen und Entwicklungshelfern. Wir konnten daher das Land aus einer anderen Perspektive kennenlernen, als es als Tourist möglich gewesen wäre. Durch diese Kontakte erfuhren wir viel über das Land und das Leben der Menschen. Die Zusammenarbeit in den Projekten war sehr offen und freundschaftlich. Wir sind froh und dankbar, die Bekanntschaft mit bspw. Daniela und Patrick und v.a. mit Luciano gemacht zu haben, mit dem wir einen besonderen Madagassen erleben durften und der in seiner Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft nicht zu übertreffen ist.
Neben der zahnmedizinischen Tätigkeiten in den Projekten, konnten wir in unserer Freizeit touristische Aktivitäten durchführen. Wir besuchten den Isalo-, Anja-, Ranomafana- und Berenty-Park, welche auf unterschiedliche Weise sehenswert sind und die jeweilige Natur der Region abbilden. Isalo- und Anja-Park sind im Hochland gelegen und durch viele Felsen und wenige Bäume gekennzeichnet. Der Ranomafana-Park liegt auf dem Weg vom Hochland an die Ostküste und ist von Regenwald geprägt. Der Berenty-Park vermittelt die Hitze und Dürre des Südens. In allen Parks sind Lemuren und Chamäleons anzutreffen. An Madagaskars Traumstränden ließen wir es uns nicht nehmen, im Indischen Ozean baden zu gehen und die sommerlichen 30°C bei strahlender Sonne zu genießen. Besonders die Strände in Fort Dauphin und auf der Insel Sainte Marie haben uns verzaubert. Während in Fort Dauphin hohe Wellen zum Surfen einladen, ist Sainte Marie das reinste Bade- und Schnorchelparadies, da es von Riffen umgeben ist und somit kaum Wellen am Strand brechen. Wir waren zwar froh, dass die Naturschätze kaum von Touristen belagert wurden, für die Madagassen wäre jedoch mehr Tourismus gut. Eine größere Anzahl an Touristen würde für mehr dringend benötigte Arbeitsplätze und Einkommen für die Familien sorgen.
Doch was uns am meisten beeindruckte, war das Beobachten des Lebens und des Alltags der Madagassen, wenn sie „Mofogasy“ (typische madagassische Reismehlküchlein) zubereiten, saftig grüne Avocados auf dem Markt verkaufen, mit ihren Zeburindern das Feld bestellen, Reis oder Manjokblätter stampfen, mit ihren Holzkohlekochern Essen zubereiten, auf kleinen Pirogen fischen oder einfach voller Herzlichkeit lächeln und sich kleiner Dinge erfreuen.
Rückblickend können wir sagen, dass unsere Famulatur ein voller Erfolg war. Wir haben in Madagaskar so viele zahnmedizinische, aber auch persönliche Erfahrungen sammeln können, wir haben viel gelernt und viel erlebt, wir konnten unseren Blickwinkel und unseren Horizont erweitern und unsere Einstellung und Meinung überdenken und festigen. Wir konnten in den sieben Wochen einen großen Teil des Landes entdecken. Es gibt allerdings noch viele weiße Flecken auf der madagassischen Landkarte und jede Menge zahnmedizinischen Bedarf. Unsere zahnmedizinische Reise 2015 ist nun leider vorbei, doch wir werden wiederkommen – eines Tages!
Wir sagen ein herzliches MISOTRA (dt. Dankeschön) an alle, die Teil unserer Famulatur waren und hoffentlich VELOMA (dt. auf Wiedersehen), Madagaskar!