Zu den Arbeitsmigranten aus Haiti sind jetzt noch die Flüchtlinge in die Dominikanische Republik gekommen. So richtig willkommen sind sie nicht.von HANS-ULRICH DILLMANN
Viel mehr als ein Dach über dem Kopf hat Blacide Michelin in der Dominikanischen Republik nicht gefunden. Bild: Hans-Ulrich Dillmann
SANTO DOMINGO taz | Blacide Michelin hat eine neue Bleibe gefunden. Einen Holzverschlag, zwei mal drei Meter groß. Eine dünne Holzwand, die mit alten Tüchern verhangen ist, separiert die Unterkunft vom Nachbarraum, in dem eine junge Familie wohnt. "Besser als nichts", sagt sie achselzuckend. "Ich hatte keine andere Perspektive."
Die Haitianerin lebt jetzt sechs Autostunden von ihrem alten Haus entfernt in der Dominikanischen Republik. Haina heißt die Vorstadt, benannt nach dem Fluss, der das Wohngebiet vom Industriehafen der dominikanischen Hauptstadt Santo Domingo trennt. Ein neues Leben liegt vor ihr - hofft die 43-jährige zumindest.
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Fünf Menschen teilen sich den winzigen Raum von sechs Quadratmetern mit dem rissigen Betonboden. Umgerechnet 10 Euro muss sie dafür bezahlen. Einkommen hat sie keines. "Aber ich muss zufrieden sein", findet sie. "Ich habe ein Dach über dem Kopf gefunden nach all dem Erlebten." Essen bekommt sie von Nachbarn.
Flüchtlinge unerwünscht
In dieser Woche haben die dominikanischen Grenztruppen eine neue Offensive gegen illegale Einwanderer aus dem Nachbarstaat Haiti gestartet. Das Cuerpo Especializado de Seguridad Fronteriza Terrestre (Cesfront) soll die Grenze zwischen der Dominikanischen Republik und Haiti abriegeln. Auch an strategischen Punkten des Landes wurden verstärkt Razzien gegen Illegale durchgeführt, Überlandbusse kontrolliert.
Die HaitianerInnen im Land sind noch stärker ins Fadenkreuz der Fahnder geraten, seit auch in der Dominikanischen Republik die Zahl der Choleraerkrankten und -toten wieder sprunghaft angestiegen ist. Bis Ende Juni sind in Haiti nach offiziellen Angaben fast 5.900 Menschen an der Infektionskrankheit gestorben und rund 389.000 daran erkrankt. Auch die Dominikanische Republik ist inzwischen betroffen. Hier gibt es bisher über 11.000 Cholerakranke, die Zahl der Todesopfer liegt nach Informationen internationaler Hilfsorganisationen derzeit bei rund 100.
Dazu kommt, dass die innenpolitische Lage in Haiti weiterhin instabil ist. Zwar amtiert seit fast drei Monaten der neue Staatspräsident Michel Martelly, eine Regierung konnte er aber noch immer nicht auf die Verfassung vereidigen. (hud)
Vor dem "großen Beben" im Januar 2010 wohnte Michelin mit Mann, Eltern und ihren sieben Kindern in einem bescheidenen, aber doch geräumigen Haus in der Nähe von Port-au-Prince, der haitianischen Hauptstadt. Drei Zimmer, Küche, Wohnzimmer und das Bad im Haus, die Wände aus Betonsteinen und das Dach aus Zement - in Haiti fast schon Luxus.
Die Katastrophe
Aber dann brach die Katastrophe auch über Blacide Michelin herein. Das Haus kollabierte in den ersten Sekunden des Bebens und begrub ihre Eltern, ihren Mann und vier Kinder unter sich - alle waren tot. Tagelang irrte sie mit den Kindern, die überlebt hatten, durch Port-au-Prince auf der Suche nach Essen und Hilfe. "Ich war völlig verrückt. Ich wollte nur noch weg." Eine Schwester von ihr lebte in der Dominikanischen Republik. Sie fand eine Person, die sie in Kontakt mit einem "Passeur" brachte. Passeure bringen Haitianer illegal über die Grenze, die die beiden Länder auf der zweitgrößten Karibikinsel Hispaniola trennt.
Ihre Schwester hat sie nicht wiedergefunden. Aber in der nächsten größeren dominikanischen Stadt nach der Grenze erbarmte sich eine Frau, drückte ihr Fahrgeld in die Hand und empfahl ihr, in Haina Hilfe zu suchen. Hier wohnen Tausende - Dominikaner und Haitianer - in ärmlichen Hütten, die sich zwischen Abwasserkanälen, Mülldeponien und das Randgebiet des Industriehafens quetschen.
Der Ort ist eine Drehscheibe für die Migranten aus dem Nachbarland. "Jeder in Haiti kennt den Namen", sagt Maria*. Sie gehört einer Organisation an, die den sin papeles, den Papierlosen, hilft. "Nach dem Erdbeben hat sich die Zahl der Haitianer hier verdoppelt."
Haitianer verdienen seit Jahrzehnten bei dem östlichen Inselnachbarn den Lebensunterhalt für ihre Familien. Die Mehrzahl von ihnen kommt über die grüne Grenze: Ambafil nennen es die Haitianer in ihrer Landessprache Kreyòl - "unter dem Grenzzaun durch".
Ohne die Haitianer in der Dominikanischen Republik gäbe es die Hochhäuser nicht, die in den letzten Jahren gebaut wurden. Beim Metro- und Straßenbau sind sie für die ungelernten Tätigkeiten zuständig. Haitianische Frauen gehen den Hausfrauen beim Waschen, Kochen oder der Kinderbetreuung zur Hand. Haitianische Jugendliche stehen vor den Supermärkten und verkaufen Kochbananen und Avocados. Am Straßenrand der Touristengemeinden verkaufen sie frisch gepressten Orangensaft oder schlagen Kokosnüsse auf, damit sich die Passanten am frischen Kokoswasser laben können. In landwirtschaftlichen Regionen helfen die jungen Leute bei der Ernte.
Aber während ein ungelernter einheimischer Arbeiter oder Erntehelfer zwischen 400 und 600 dominikanische Pesos pro Tag (8 bis 11 Euro) ausgezahlt bekommt, wird sein illegaler Kollege mit der Hälfte abgespeist.
"Früher waren die meisten Haitianer in der Landwirtschaft eingesetzt, heute wird der Bausektor von ihnen dominiert", sagt Francisco Leonardo, ein Rechtsanwalt der Hilfsorganisation Servicio Jesuita a Refugiados y Migrantes. Die Jesuitenhilfe berät und unterstützt die Einwanderer. "Die haitianische Migration zeichnet sich durch eine starke Rotation aus", sagt Leonardo. "Die Leute ziehen von Region zu Region der Ernte oder den Bauprojekten hinterher, und dann gehen sie wieder zurück in ihre Dörfer."
Wie viele Haitianerinnen und Haitianer vorübergehend oder ständig im Land leben, weiß niemand so recht. Die dominikanische Einwanderungsbehörden gab ihre Zahl vor dem Erdbeben in Haiti im Januar 2010 mit 800.000 bis 1,2 Millionen an. Nach dem Beben seien rund 300.000 dazugekommen, viele zur medizinischen Behandlung, schätzt Leonardo, und geblieben.
Auch noch Cholera
So willkommen sie Unternehmern und Agrobetrieben als billige Saisonarbeitskräfte sind, das Thema "Haitianos" lässt in der Dominikanischen Republik, in der jährlich rund 180.000 Deutsche Urlaub machen, immer wieder die Emotionen hochkochen. "Die nehmen uns die Arbeit weg", schimpft ein fliegender Händler in der Calle El Conde in der Altstadt von Santo Domingo. Der Mann lebt davon, Passanten raubkopierte DVDs zu verkaufen. "Die Haitianer haben uns die Cholera ins Land gebracht", ist sich eine Frau sicher, die an der Theke in einem Tante-Emma-Laden ansteht, um sich zwei Brötchen und für 10 Cent Margarine und Oliven zu kaufen.
Oft genug kommt es zu gewaltsamen Konfrontationen: Am 25. Juni dieses Jahres jagten Einwohner - darunter 12 und 14 Jahre alte Jugendliche - in Galván, einem Weiler in der südwestlichen Grenzprovinz Bahoruco, drei Haitianer durchs Dorf und ermordeten sie mit Messern und Macheten, weil sie angeblich einen Dominikaner ermordeten hatten.
Im Januar fackelte eine Menschenmenge unter lautem Jubel vier kleine Hütten von Haitianern ab, weil einer von ihnen beschuldigt wurde, einen Wachmann angegriffen zu haben. Ein Kleinkind verbrannte. Meldungen wie diese machen auch Blacide Michelin Angst, die sich eh nicht aus der näheren Umgebung ihrer Unterkunft heraustraut. "Ich habe den Leuten doch nichts getan", sagt sie.
"Die Haitianer werden für alles verantwortlich gemacht", sagt Sonja Pierre, Gründerin und Direktorin des Movimiento de Mujeres Dominico-Haitianas (Mudha). Die "Bewegung dominikanisch-haitianischer Frauen" arbeitet in den Stadtvierteln, in denen viele haitianischen Migranten leben. Sie unterhält Schulen für die Kinder der Einwanderer und für jene, die im Land geboren sind, aber keine Papiere haben, um auf eine staatlich finanzierte Schule zu gehen.
"Der dominikanische Staat hat keine kohärente Einwanderungspolitik", klagt Pierre. "Man hat kein Interesse, die Situation zu regeln, denn jeder verdient am Geschäft mit den illegalen Billigarbeitskräften - Schleuser, Polizisten, Militärs und Grenzbeamte." Die 47-Jährige dominikanische Staatsbürgerin ist Tochter haitianischer Einwanderer und wurde in einem Barackenlager für Landarbeiter geboren.
Pater Regino Martínez spricht von Rassismus. "Wer schwarz ist, wird festgenommen und abgeschoben", sagt der Koordinator der Grenzsolidarität für Flüchtlinge des Jesuitenordens in der Dominikanischen Republik. Die Einwanderungsbeamten interessiere nicht, ob jemand gültige Aufenthaltspapiere, eine Saisonarbeitserlaubnis oder sogar als im Land geborener Nachkomme von Haitianern die dominikanische Staatsbürgerschaft habe. "Die Regierung will die Situation gar nicht regeln, denn dann müsste sie den Migranten ja auch Rechte zugestehen."
Ein gewöhnlicher Sonntagnachmittag auf dem Platz vor der Kirche Notre Dame de lAsomption in Ouanaminthe. Die Gruppe von vier Frauen und elf Männern fällt auf, weil sie immer wieder gespannt Ausschau hält. Gegen 16 Uhr taucht dann ein dunkler Pritschenwagen auf und verschwindet kurze Zeit später mit ihnen auf der Ladefläche. Wenige Stunden später lädt der Pick-up seine menschliche Fracht in Capotille, südlich des offiziellen Grenzübergangs ab. Mit Motorrädern geht es weiter bis zur Haltestelle der Minibusse auf dominikanischer Seite, die nach Santiago, der zweitgrößten Stadt des Landes, fahren.
Jede Menge Checkpoints
Sechs bis acht, manchmal sogar zwölf Polizei- und Militärkontrollen gibt es auf dieser Strecke. "An allen Checkpoints wird kassiert", erzählt Jacobo* von der "Solidarischen Vereinigung der Arbeitsmigranten", einer Selbsthilfeorganisation. Das Prozedere ist immer gleich: Ein Polizist oder ein Soldat fragt den Fahrer "Wie viel hast du?", und dieser drückt ihm entsprechend der Anzahl der Passagiere eine Geldsumme in die Hand. "Pro Person und pro Kontrolle werden 100 bis 200 Pesos bezahlt", versichert er. "Das ist hervorragend zwischen den Akteuren eingespielt."
Aber die Preise für die Illegalen sind seit dem Beben und dem Ausbruch der Cholera angestiegen. Inzwischen kostet eine organisierte Schleusung umgerechnet über 100 Euro. Ein Vermögen, wenn man die Einkünfte von Dondedieu*, der auf einer Finca als Nachtwächter arbeitet, zugrunde legt. Er verdient gerade mal 110 Euro im Monat. Und das Risiko, als Illegaler geschnappt zu werden, ist groß. "Wenn ich kein Geld habe, kann ich nicht raus", erzählt Dondedieu. Wer nicht zahlt, wird abgeschoben.
"Ich habe noch Glück gehabt", sagt Blacide Michelin. Kurz nach dem Erdbeben hätten sogar die Leute, die ihr geholfen hatten, ambafil ins Land zu kommen, Mitleid gehabt und darauf verzichtet, von ihr Geld zu verlangen.
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