Zum Weltfrauentag wird viel über Gleichberechtigung debattiert. Sei es in der Hausarbeit oder im Berufsleben. Doch ein Aspekt des täglichen Lebens wird dabei oft vergessen: das Liebesleben.
Auch hier kommen Frauen oft zu kurz: Menschen mit Vulva haben im Schnitt weniger Orgasmen. Mainstream-Pornos zeigen in erster Linie, was Hetero-Männern gefällt. Die weibliche Lust wird allzu oft als zu ausschweifend (oder alternativ zu frigide) bewertet. Wie können wir uns annähern? Das fragten wir eine Expertin.
"Zuerst die gute Nachricht: Sex kann man lernen. Die schlechte ist aber: Wir lernen alle aus den falschen Ressourcen."
watson: Wie weit sind wir mit der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau in Bezug auf Sex?
Lea Holzfurtner: Zur Gleichberechtigung aller Geschlechter – nicht nur von Männern und Frauen – haben wir noch einen weiten Weg. Ohne Gleichberechtigung im Zugang zu Ressourcen gibt es auch keine Gleichberechtigung in Bezug auf Sex. Daher spreche ich gerne von Menschen mit Vulva und Penis. In erster Linie sind wir alle Menschen. Das Geschlecht ist in meinen Augen zweitrangig.
"Eine Frau ist billig oder prüde." "Ein Mann will immer." Gibt es diese Klischees trotzdem noch?
In meiner Sexcoaching-Praxis in Berlin begegnen sie mir immer noch ständig: Diese Sexmythen, die wir schlimmerweise als absolute Fakten wahrnehmen. Sie erklären uns, was Sex ist, wie wir ihn initiieren sollen, wie oft wir ihn haben sollen, was uns anturnen soll, was normal und erlaubt ist. Sie halten uns davon ab, genau den Sex, den wir uns wirklich wünschen, zu erleben – und oft sogar überhaupt zu wissen, welcher Sex das überhaupt wäre.
"Je nach Studie geben nur zwischen 4 und 16 Prozent der Menschen mit Vulva an, regelmäßig durch reine Penetration einen Orgasmus erleben zu können."
Werden landläufige Pornos weiblichen Fantasien gerecht?
Pornos werden oft aus dem sogenannten Male-Gaze erzählt, das heißt aus einer männlichen Perspektive. Aber es gibt mittlerweile auch viele ethisch produzierte Beispiele, die die Lust von Menschen mit Vulva in den Mittelpunkt rücken und Erotik neu erzählen. Die klassischen Sexskripte bekommen hier Konkurrenz von sexuellen Aktivitäten, die sich auch an der Lustanatomie der Vulva orientieren. Sie zeigen echte Orgasmen, die oft nicht so schnell gehen und wie Konsensgespräche, Lecktücher und Kondome sexy eingebaut werden können, spiegeln diverse Körper und Geschlechter wider und bieten faire Bezahlung und Mitbestimmung für die Darsteller:innen.
Warum setzt die Gesellschaft ansonsten Sex fast immer mit Penetration gleich?
Zuerst die gute Nachricht: Sex kann man lernen. Die schlechte ist aber: Wir lernen alle aus den falschen Ressourcen. Wir lernen von Teenagern, die damals genauso wenig wussten wie wir, von Eltern, die mehr auf unsere Sicherheit als Lustgewinn fokussiert sind, von Lehrer:innen und Ärzt:innen, die sich genauso unwohl und beschämt fühlen wie wir, dieses Thema zu besprechen, aus Romcoms, die Sexmythen und Stereotype oft nur unterstreichen und aus Pornos, die für Erregung geschaffen wurden – nicht aber als Aufklärung.
Was bringen uns diese zweifelhaften Quellen bei?
Überall dort lernen wir ein Skript. Wie Sex abzulaufen hat, was normal ist. Und dieses Skript replizieren wir dann. Wir setzen Sex mit Penetration gleich. Dieser Sex ist für viele, allerdings auch nicht alle, Menschen mit Penis aufgrund ihrer Anatomie ein guter und schnurgerader Weg, Orgasmen zu erleben. Für Menschen mit Vulva ist das nicht der Fall.
Mit dem Ergebnis?
Je nach Studie geben nur zwischen 4 und 16 Prozent der Menschen mit Vulva an, regelmäßig durch reine Penetration einen Orgasmus erleben zu können. Alle Orgasmen von Menschen mit Vulva sind klitoraler Natur, das heißt, sie entstehen durch Stimulation der äußerlich sichtbaren Teile der Klitoris, oder der Stimulation der innenliegenden Teile der Klitoris, zum Beispiel durch Druck durch die Vagina oder Druck auf den Mons Pubis [Anm. der. Red: Venushügel]. Übrigens ist das oft auch in der Natur so: Wir wissen zum Beispiel, dass Makaken-Affenweibchen öfter Orgasmen erleben durch Aneinanderreiben, also Stimulation der äußeren Klitoris, als durch Penetration.
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Holzfurtners Buch gibt Orgasmus-Tipps.Bild: privat
Wie lässt sich diese Orgasm Gap zwischen den Geschlechtern schließen?
Dafür braucht es eine sexpositivere Gesellschaft, die anregt, Sex nicht nur als Penetration plus eventuellem "Vorspiel" zu definieren, sondern so wie wir Sexolog:innen das tun: Sex ist jede Aktivität, die dir sexuelle Lust bereitet. Was braucht es für eine sexpositive Gesellschaft? Echte Diversität, Gleichberechtigung und wissenschaftsbasierte, sexpositive Sexualaufklärung nicht nur an Schulen, sondern auch an den Unis unserer Ärzt:innen und Therapeut:innen. Außerdem brauchen wir mehr finanzielle Förderung von wissenschaftlichen Studien, die diese Themen weiter untersuchen.
Sind wir schlecht aufgeklärt über die weibliche Anatomie?
Uns allen fehlt fundiertes Wissen über Sexualität, da wir aus den völlig falschen Ressourcen lernen und sich Mythen und falsches Wissen so hartnäckig halten. Noch wesentlicher ist, dass wir nirgends lernen, wie wir über Sexualität sprechen können: weder mit Freunden oder Familie, noch mit Partner:innen, Ärzt:innen oder Therapeut:innen.
Woran liegt das?
Sexuelles Wohlbefinden wurde von der World Association of Sexual Health sogar als Menschenrecht bezeichnet. Trotzdem fühlen sich die Berufe, die dafür unsere ersten Ansprechpartner sind, also Ärzt:innen, Therapeut:innen oder Gynäkolog:innen, sehr oft unwohl, diese Themen ohne Scham zu besprechen.
"Selbstverständlich nimmt ein hoher Mental Load Lust und Erregung oft ganz wörtlich den Platz weg."
Was hat das zur Folge?
Die Vermeidung von Krankheiten, Schwangerschaften oder medizinische Sexualstörungen, darüber wird aufgeklärt. Über die positive Seite von Sexualität, Lust und sexuelles Wohlbefinden, aber nicht! Diese Themen oder Best Practices, wie man sie unbeschwert mit Patientinnen besprechen kann, werden in den Ausbildungen dieser Berufe gar nicht behandelt. Zudem fehlt selbst in medizinischen Lehrbüchern Detailwissen über die Anatomie der Klitoris. Wenn wir also davon sprechen, dass wir alle schlecht aufgeklärt sind, dann meine ich damit sogar unsere Ärzt:innen und Therapeut:innen. Deswegen braucht es klinische Sexolog:innen, Sex-Coaches und Sexualberater:innen, die ohne Scham und mit fundiertem Fachwissen genau hier helfen.
Wie beeinträchtigen andere soziale Ungerechtigkeiten die weibliche Lust, zum Beispiel der Mental Load?
Unser Erregungs- und Orgasmuspotential hängt tatsächlich nicht nur von der körperlichen Stimulation ab, sondern sehr stark auch von unserer mentalen Erregung. Studien zeigen aber, dass der sogenannte Mental Load gerade in klassischen heterosexuellen Beziehungen durchaus ungleich verteilt ist. Selbstverständlich nimmt ein hoher Mental Load Lust und Erregung oft ganz wörtlich den Platz weg. Ich sage meinen Klient:innen oft: "Erwarte von deinem Körper nicht, Orgasmen und Lust zu produzieren, wenn du eigentlich gerade Angst hast, deinen Job zu verlieren, wenn deine Beziehung ein ständiger Machtkampf ist oder wenn deine Kids oder Familie gerade mit Problemen kämpfen."