Auch wenn das Erdbeben jetzt schon ein Dreivierteljahr zurückliegt und sich die Schlagzeilen anderen Ereignissen zugewandt haben, sollte Haiti nicht ganz aus dem Bewusstsein verdrängt werden. Da in der ersten Phase nach dem Beben die zahnmedizinische Versorgung nicht im Vordergrund stand, hat das Hilfswerk Deutscher Zahnärzte (HDZ) zunächst die Don Bosco Mission, das Caritas-Hilfswerk wie auch den Wiederaufbau der Wasserversorgung finanziell unterstützt. Zahnarzt Tobias Bauer aus Singen hat im Mai internationale Hilfsprojekte in Haiti besucht – und dabei festgestellt, dass er auch als Zahnmediziner sehr gefragt war.
Gleich nach dem Erdbeben vom 12. Januar habe ich mir Gedanken darüber gemacht, wie man von zahnärztlicher Seite sinnvolle und nachhaltige Unterstützung leisten kann. Über internationale Organisationen waren die Kontakte zu heimischen Organisationen in Haiti schnell geknüpft und so reiste ich im Mai 2010 zu einem Arbeitseinsatz und zu Treffen mit verschiedenen Organisationen auf die Karibikinsel. Gerade in einem Land, in dem es schon vor der Katastrophe an allem fehlte, ist für die meisten Menschen zahnärztliche Hilfe unerschwinglich. Zahnärzte gibt es nicht sehr viele im Land und das hat natürlich einen Grund. Zum einen ist die Ausstattung für eine Praxis nicht so leicht finanzierbar und zum anderen ist das wirtschaftliche Überleben einer Praxis ohne staatliche Hilfe in einem Land, in dem 80 Prozent der Bevölkerung weit unter der Armutsgrenze leben, so gut wie unmöglich. Durch einen Spendenaufruf der südbadischen Zahnärzteschaft kam hochwertiges zahnmedizinisches Gerät zusammen. Die Firma Morita unterstützte die Aktion großzügig mit einer Reihe von Geräten. Für größere Spenden wie Behandlungsstühle, Röntgengeräte oder Sterilisatoren wird derzeit nach einer günstigen Transportmöglichkeit gesucht.
Als besonders vorteilhaft erwies sich der Kontakt zum Jesuit Refugee Service. Die Flüchtlingshilfe des Jesuitenordens ist grenzübergreifend tätig und verfügt über eine sehr gute Logistik vor Ort. Seit über 35 Jahren betreut sie gemeinsam mit der Creighton University aus Oklahoma das Institute for Latin American Concerns, ILAC, ein Zentrum zur Unterstützung der Landbevölkerung, um ihr Alternativen zur Landflucht zu bieten. Die Arbeit der Jesuiten sowie der mit ihnen verbundenen Freiwilligen aus aller Welt genießt sehr hohes Ansehen bei der Bevölkerung. Der Vorteil liegt auch darin, dass über mobile ärztliche und zahnärztliche Einheiten verfügt wird. Zudem gibt es ein kleines Krankenhaus, das hauptsächlich von ehrenamtlich tätigen Ärzten genützt wird. Dort hat man langjährige Erfahrung mit Ärzten aus aller Welt, die ihren Jahresurlaub für Hilfseinsätze opfern. Die Kommunikation funktioniert hervorragend auf Englisch wie auch auf Spanisch und wenn man es wünscht kommt man auf dem Campus in einem netten Bungalow unter.
Was eigentlich „nur“ ein Gesprächstermin war, entwickelte sich schnell zu einem längeren Aufenthalt. Bei einer Besichtigung eines der Camps stellte sich heraus, dass viele der Bewohner seit 1996 keinen Zahnarzt mehr gesehen hatten. So wurden erst mal die nächsten Gesprächstermine abgesagt und vier Tage lang unter nicht gerade einfachen Umständen operiert. Eine mobile Behandlungseinheit samt Kompressor und Stromgenerator wurde auf einen Geländewagen gepackt und in einer ehemaligen Schule aufgebaut. Das Behandlungsspektrum war sehr einseitig und bestand fast ausschließlich aus chirurgischer Tätigkeit.
Trotz aller Widrigkeiten war es zu schaffen, und die Campbewohner waren froh, dass sich überhaupt jemand um ihre Zähne kümmert und ihnen die sonst unerschwingliche Zahnbehandlung zukommen ließ. Eine Zahnbehandlung kostet umgerechnet zwischen zwei und acht Euro. Bei einem Monatsverdienst für eine vielköpfige Familie, der selten über 100 Euro liegt, kann man sich leicht ausrechnen, wer sich eine Zahnbehandlung leisten kann. Dazu kommt, dass sich der Nutzen der Zahnpflege noch nicht überall herumgesprochen hat. Dafür ist der Konsumvon reinem Zuckerrohr weit verbreitet. Die Folgen sind bekannt. Die Menschen müssen mit Karies oder entzündeten Weisheitszähnen leben und tun dies auch. Viele haben keine andereWahl, weshalb der Gesundheitsvorsorge eine entscheidende Rolle zukommt.
Nächste Station war das Krankenhaus in Milot, im Norden von Haiti. Dieses kleine Krankenhaus mit seinen 100 Betten überstand das Erdbeben unbeschadet und wurde durch große Zelte von der US Army zu einer 500-Betten-Klinik aufgestockt. Viele Langzeitpatienten sind dort untergebracht. Die 16 Ärzte der Klinik werden durch über 100 Freiwillige aus aller Welt unterstützt. Allerdings waren weder Zahnärzte noch überhaupt jemand aus Deutschland darunter. Wir konnten mit dem Klinikdirektor sprechen: 500 Patienten bedeutet, über 1.500 Menschen versorgen zu müssen und das ist für das kleine Haus ein enormer logistischer Aufwand. In der Klinik befindet sich auch eine Zahnstation – die einzige im Norden von Haiti mit nur sehr bescheidener Ausstattung. So fehlt zum Beispiel ein Röntgengerät oder ein Sterilisator.
Letzte Station war schließlich die Hauptstadt Port-au-Prince. Das erste Treffen galt der Zahnklinik. Mit dem Forschungsdekan Dr. Samuel Prophete und dem Studiendekan Dr. Jacques Dennis wurden der Ausbildungsstand und Möglichkeiten der Unterstützung eingehend besprochen. Zeitweise war auch die Oberärztin Dr. Chantal Noel zugegen, die von 1982 bis 1984 in Heidelberg studiert hatte und sich gerne an diese Zeit erinnert. Das Positive vorweg: Die Zahnklinik hat im Gegensatz zu vielen Nachbargebäuden des Hôpital de l‘Universite d‘Etat d‘Haiti das Erdbeben ohne äußerlich sichtbare Schäden überstanden. Doch der Stand der Einrichtung liegt um Jahrzehnte zurück. Für die chirurgische Abteilung gibt es eine einzige mobile Absauganlage, die zwischen den Stühlen hin und her geschoben werden muss. Von drei Röntgengeräten funktioniert gerade noch eines. Die Zahnklinik ist praktisch auf sich alleine gestellt.
Das nächste Gespräch führte wiederum zum Jesuit Refugee Service, der in Port au Prince sieben der großen Zeltstädte mit tausenden von Bewohnern betreut. Für dessen Leiter, Père Lazard, steht jetzt, nach der Behandlung der akuten Verletzungen die Langzeitbetreuung an. Es ist leicht nachvollziehbar, welche Probleme entstehen, wenn so viele Menschen, die sich vorher nicht kannten, auf engstem Raum zusammen leben müssen.
Bei der medizinischen Betreuung lässt man sich gerne helfen. Auch hier erfolgt dieVersorgung über mobile Einheiten. Eine Ärztegruppe des Malteserordens hat einen Container mit Materialien und Gerätschaften dort gelagert, um von diesem Stützpunkt aus die Camps anzufahren. Sehr wichtig ist es, mit einheimischen Kräften gemeinsam loszugehen. Diese internationale Solidarität hilft auch den lokalen Kräften, die damit vom Erfahrungshorizont der Helfer profitieren. Einen hohen Stellenwert hat die Aufklärung und Vorbeugung. Viele alltägliche Krankheiten könnten durch einfache Vorbeugemaßnahmen vermieden werden. Und hier könnte sich der Kreis schließen: Wenn etwa deutsche Kollegen gemeinsam mit haitianischen und internationalen Studenten in die Camps gehen, um neben dem Zähneziehen auch Prophylaxe vorzustellen, wäre schon viel geholfen. Diese Maßnahme ginge weit über die Zahnmedizin hinaus, denn ein Großteil der aktuell auftretenden Allgemeinerkrankungen ist auf mangelnde Hygiene zurückzuführen.
Anhand dieser Erfahrungen wird einem plastisch vor Augen geführt, wie wichtig es ist, dass die zahnärztliche Ausbildung auch in Zukunft über die Versorgung der Schönen und Reichen mit Keramikfacetten und gebleichten Zähnen hinaus gehen muss. Zahnprobleme sind nicht selten Ursache für ganz andere Probleme, wie etwa bei Schwangeren.
In den Camps und auf den Straßen sah man sehr viele Studentengruppen aus den USA, teils Hilfsorganisationen angehörend, teils christlich motiviert, aber alle bereichern die internationale Gemeinschaft und man kommt sehr leicht in Kontakt. Diese internationalen Gespräche und Erlebnisse sind ein Teil dessen, was man selbst mit nach Hause nimmt. Kein Wunder, dass die Rückkehr mit leeren Taschen, aber vielen Projekten und Eindrücken, die man nicht missen möchte, erfolgte. Dabei ist eine Sache gewiss: Die Arbeit hat erst angefangen!
Denn eine zahnmedizinische Versorgung für 50.000 bis 100.000 Menschen aufzubauen, heißt bei Null anzufangen. Für eine zahnärztliche Behandlung reichen da eine Spritze und eine Zange. Will man aber mehr als nur Zähne ziehen, so braucht man mindestens einen Stromgenerator, einen Kompressor und eine mobile Behandlungseinheit. Entscheidend aber ist, die Kräfte vor Ort einzuweisen und fortzubilden. Gerade diese nachhaltige Hilfe zur Selbsthilfe soll das langfristige Ziel dieser Aktion sein. Deshalb sind Freiwilligendienste aus der Zahnärzteschaft überall auf derWelt sehr willkommen.
Tobias Bauer » info@zahnaerzteblatt.de