Vom Schönheits- zum Kriegschirurgen: Die höllische Mission des Enrique Steiger
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FOCUS-Online-Reporter Ulf Lüdeke (Zürich)
Montag, 04.03.2019, 14:27
Kriegsärzte riskieren ihr eigenes Leben, um das anderer Menschen zu retten. Einer von ihnen ist Enrique Steiger. In der Schweiz liftet der berühmte Arzt in seiner Schönheits-Klinik Fältchen gut betuchter Patienten, zwischen Afghanistan und Mali operiert er mittellose Kriegsopfer. Und investiert Geld und Prominenz in ein Arztprojekt im Libanon, das sich am Ende selbst tragen soll.
Wer Enrique Steiger in seiner Züricher Klinik besucht, taucht ein in ein Fest der Bilder. Im Wartezimmer des 2. Stocks steht zwischen pastellgelben Wänden auf einem Metallständer eine aufgeschlagene, 35 Kilo schwere Ausgabe des legendären SUMO-Buches von Helmut Newton, limitierte Auflage, 11.500 Euro pro Stück. Langbeinig werben nackte Models geplättet unter Plexiglas für makellose Schönheit. Vom salonartigen Chefarztzimmer hat der graumelierte Ästhetik-Guru einen Blick direkt auf den Zürichsee, durch dessen silbernes Glitzern Schwäne und Segelboote gleiten.
Bilder von seinem zweiten Arztjob, der ihn gelegentlich ebenfalls an Gewässer führt, gibt es nur wenige. Dafür haben sie sich in sein Gedächtnis gebrannt, unauslöschlich. Wie jenes aus dem Frühjahr 1994. „Als ich nach Ruanda reiste, hielten wir bei einem Grenzposten an einem Fluss, der in den Viktoriasee mündet. In den paar Minuten, die wir warteten, zählte ich 160 Leichen, die an uns vorbeitrieben.“
„Dachte, das Grauen würde man mir nicht glauben“
Seit einem Vierteljahrhundert zieht Steiger nun schon als Kriegschirurg von Konflikt zu Konflikt, 23 an der Zahl mittlerweile, etwa zwei bis drei Monate pro Jahr. Nach Afrika, in den Nahen und Mittleren Osten.
Lange zog er es vor, überhaupt nicht über diese Bilder zu sprechen, sagt der 59-Jährige. „Das Grauen, das ich gesehen habe, ist so groß, dass ich dachte, die Menschen könnten mir das nicht glauben.“ Ihm, einem Schönheitschirurgen, der ohne die Hilfe von Skalpellen selbst Model für Newton hätte stehen können. Einer, der weiß, wie gut es das Leben mit ihm meint.
Doch gelegentlich erzählt der Arzt, der als Unfallchirurg in Zürich begann, inzwischen von den Erlebnissen als Kriegschirurg. Was viel zu tun hat mit seinem beruflichen Werdegang, der auf den ersten Blick aus einem drastischen Gegensatz zu bestehen scheint: Schönheits- und Kriegschirurg. Himmel und Hölle. Auf den zweiten lösen sich die Gegensätze jedoch auf in eine Fügung, die notleidenden Menschen in Kriegen nicht nur kurzfristig helfen könnte, sondern auch langfristig.
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Krieg statt Karibik
Ihren Anfang nahm diese Fügung 1992, als dem Unfallchirurgen nach vier Assistenzjahren das Warten auf eine Oberarztstelle in Zürich zu lang wurde. Steiger liebäugelte mit einem mehrmonatigen Sabbatical, wollte mit Freunden durch die Karibik segeln.
Doch es kam anders. Ein Professor, der sich sorgte, sein junger Traumatologe könnte zu sehr Gefallen an der Karibik finden, erzählte, die Schweizer Armee suche einen Oberarzt für ein UN-Camp in der Kriegsregion zwischen Namibia und Angola. „Ich konnte so meinen Rang abdienen und gleichzeitig eine Art Abenteuer erleben. Besser ging’s nicht, dachte ich mir, und sagte zu.“
Die Ankunft im einstigen Deutsch-Südwestafrika, erinnert sich Steiger, sei „ein Spektakel“ gewesen. „Wir wurden mit einem Konvoi von 20 UN-Jeeps zum Camp in den Norden gefahren, wo die Menschen Spalier standen, uns zujubelten und uns fast wie Befreier gefeiert haben. Es war der reine Wahnsinn.“
„Die Menschen waren unglaublich dankbar“
Obwohl das Camp mit seinen rund 6000 UN-Soldaten in einer umkämpften Region gelegen habe, sei der Einsatz relativ ungefährlich gewesen. „Ich war als Truppenarzt bei einer Friedensmission, wirklich dringende Fälle gab es nicht.“
Doch der Züricher Arzt bekam schnell mit, dass das bei den Einheimischen ganz anders war. Kurzentschlossen dehnte er als Oberarzt des UN-Lagers mit dem Lazarett-Personal den Auftrag eigenständig aus. „Wir hatten kein UN Mandat dazu. Aber die Hilfe kam gut an, die Menschen waren unglaublich dankbar.“
Als dann auch noch die internationale Presse Wind von der Geschichte bekommen habe und Titelseiten damit schmückte, sei den UN schließlich nichts anderes übriggeblieben, als den Medizin-Trupp gewähren zu lassen, blickt Steiger zufrieden zurück. „Diese Mischung aus nationaler und internationaler Krisenpolitik und das Gefühl, etwas Wichtiges, Gutes für bedürftige Menschen zu tun - mein Interesse an humanitären Einsätzen war sofort geweckt.“
Drei Prozent bei traumatologischen Eingriffen entscheidend
Kaum wieder daheim am Zürichsee vom zweimonatigen Abenteuer-Einsatz in Namibia ergriff Steiger eine Chance, die sein Leben noch stark beeinflussen sollte: Er ging für vier Jahre nach Rio de Janeiro zu Ivo Pitanguy. Der 2016 gestorbene brasilianische Arzt gilt als Pionier der plastischen Chirurgie. Niki Lauda ließ seine Brandverletzungen nach dem Formel-1-Unfall von Pitanguy kurieren, Sofia Loren und Gina Lollobrigida vertrauten die Konservierung ihres Sexappeals seinem Skalpell an.
Die Traumatologie sei auch der Grund gewesen, so Steiger, warum er damals samt Frau und der dreimonatigen Tochter auf die Südhalbkugel zog. Pitanguy hatte bei den berühmtestem Kriegschirurgen Europas gelernt, galt als Experte für Handverletzungen, Gesichts- und Knochenrekonstruktionen.
Doch der Brasilianer bildete Steiger trotz anfänglichen Protests vor allem in ästhetischer Chirurgie aus. „Er sagte zu mir: ‚Mein junger Freund, 97 Prozent der plastischen Chirurgie schaffen alle. Das, worauf es ankommt, sind aber die letzten drei. Sie entscheiden über Funktionalität und Aussehen. Ohne die zu beherrschen, wirst du nie ein wirklich guter plastischer Chirurg.“
Die Zeit in Rio trug dazu bei, dass der Schweizer heute selbst zu den berühmtesten Schönheitschirurgen zählt und eine eigene Klinik am Utoquai zwischen Oper und Steigenberger gründete, in der er gerade im weißen Arztkittel an seinem weißen Schreibtisch vor weißen Wänden und Regalen sitzt und über sein Leben erzählt. Sie half ihm aber auch, sich als Kriegsarzt weiterzuentwickeln. „Und ich merkte damals schnell, dass mir bei meiner Arbeit als Schönheitschirurg der humanitäre Aspekt fehlte.“
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„Nichts war so schlimm wie Ruanda“
Ex-Jugoslawien, Afghanistan, Jemen, Syrien: Der Schweizer ist in vielen Krisenherden gewesen. Und zwar an vorderster Front, mitten in der Hölle also, wo gekämpft wird. Wo er mit seinen Kollegen und Helfern das eigene Leben aufs Spiel setzt, um das anderer zu retten. Hat sogar Terroristen behandelt (Steiger: „Ich bin Arzt, kein Richter“), die von der ganzen Welt gesucht wurden. „Das passiert, wenn du in einem Radius von 1000 Kilometern der einzige Arzt bist.“
Doch nichts, sagt Steiger, „nichts war so schlimm wie die vier Monate in Ruanda“, wo zwischen April und Juli 1994 rund eine Million Menschen - die meisten von ihnen Tutsi - von den Hutu in einem Genozid regelrecht abgeschlachtet wurden. Es war seine zweiter Einsatz als Kriegsarzt, und es war das genaue Gegenteil vom ersten. „Während der UN-Einsatz in Namibia ein Erfolg war, steht der Völkermord in Ruanda bis heute für das totale Versagen der internationalen Gemeinschaft, einen bestialischen Konflikt einzudämmen und die Zivilbevölkerung zu schützen.“
„In einen Abgrund geschaut, der alles ändert“
Steiger sah mit seinen Augen, wie eine Frau auf der Ladefläche eines Pick Ups vergewaltigt und ihr Mann danach erschossen wurde. Er selbst sei mit einer Kalaschnikow in Schach gehalten worden, vor die Option gestellt: „Willst du leben oder sterben?“. Er musste mit ansehen, wie Patienten eines ganzen Hospitals samt Mitarbeitern erschossen wurden. Eine Krankenschwester habe überlebt, weil sie bewegungslos unter einem Berg von Leichen ausharrte.
Er sei einmal ein unbeschwerter Mensch gewesen, sagt der Kriegschirurg. Doch das war vor dem Einsatz in Ruanda. „Wenn man in diesen Abgrund hineinschaut, dann kann man nicht mehr wie gehabt weiterleben.“
Ein Traum wird wahr: Eigene Stiftung „Swisscross“ für Kriegsopfer gegründet
Dass aus ihm kein „War Junkie“ wurde, was vielen Kriegsärzten passiere, habe er vor allem seiner Frau zu verdanken, mit der er eine Tochter hat und die er vor dem ersten Einsatz in Namibia heiratete. Zwar habe die Familie oft auf ihn verzichten müssen, wenn er unterwegs war. Doch das Leben in Europa hat er nie für seine Familie aufgegeben. Im Gegenteil: Steiger hat den Abstand genutzt, um auch hier, in der sicheren Schweiz, etwas aufzubauen, wovon er „20 Jahre geträumt“ habe: die Gründung einer eigenen Stiftung zum Schutz von Kriegsopfern.
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„Swisscross“ entstand 2014 und ist Steigers Antwort auf die „wachsende Behäbigkeit“ internationaler Hilfsorganisationen, für die er selbst lange im Einsatz gewesen ist. „Große Organisationen werden durch einen immer größeren Verwaltungsapparat immer stärker von dem abgehalten, wofür sie gegründet wurden: Menschen in Not schnell und effektiv zu helfen.“ Hauptaufgabe von Swisscross sei der Aufbau eines Ausbildungshospitals im Libanon zusammen mit einer großen humanitären Organisation.
Beste Ausbildung für Einheimische für eine nachhaltig exzellente Versorgung vor Ort
Sein Erfolg als Schönheitschirurg helfe ihm dabei gleich auf mehrfache Weise, erklärt der Schweizer. „Ein bekannter Arzt zu sein hat den Vorteil, viele andere bekannte Ärzte zu kennen. Ich habe schon mehrere für die Stiftung gewinnen können. Sie gehen für ein paar Wochen nach Tripolis in den Libanon und bilden als Experten lokale Ärzte direkt vor Ort aus.“
Die Nachhaltigkeit sei ein ganz wichtiger Aspekt dieses Projekts. „Hilfe von außen ist besser als keine. Viel effektiver aber ist, einheimische Ärzte direkt vor Ort auszubilden.“ Denn die gingen nicht weg, sondern blieben und bildeten andere Ärzte aus – im Augenblick für Syrien, Jemen, den Gaza-Streifen und Südsudan. Und würden dafür von der Stiftung auch mit zinslosen Darlehen unterstützt, bis sie vor Ort selber genug verdienten.
Wiederherstellungschirurgie als völlig neuer Ansatz
Völlig neu sei zudem der Ansatz, diese Ärzte nicht nur in der perfekten notärztlichen Versorgung von Kriegsverletzungen auszubilden, sondern auch in der Wiederherstellungschirurgie. „Es ist von essentieller Bedeutung, Verletzungen nicht nur zu versorgen, sondern so zu operieren, dass die Menschen nach ihrer Genesung ein möglichst normales Leben weiterführen können.“
Entscheidend sei dafür, über die neuesten Kenntnisse der plastischen- und Wiederherstellungschirurgie zu verfügen. „Eine verletzte Hand oder ein Bein zu flicken ist anspruchsvoll. Sie aber so zu behandeln, dass sie wieder möglichst komplett wieder eingesetzt werden können, die volle Funktionstüchtigkeit erreichen, ist von enormer Bedeutung für diese Menschen. Viele Kriegsopfer leiden für den Rest ihres Lebens an Behinderungen, nur weil sie anfänglich nicht richtig operiert wurden.“
Und last, but not least würde es Swisscross ohne seine Schönheitsklinik nicht geben. „Die Patienten meiner Schönheits-Klinik finanzieren gewissermaßen die Stiftung, die ich aus rund einem Fünftel der Klinikeinkünfte mitfinanziere“, sagt Steiger.
Die Stiftung, sagt er, sei für ihn mittlerweile zum „Lebenswerk“ geworden. In Vorbereitung sei gerade eine Software, mit der Kriegsopfer, die von Swisscross-Ärzten behandelt würden, den Genesungsprozess per Fotos via Smartphones dokumentierten, die in der Regel überall verfügbar seien. Das erleichtere die Nachbehandlung für alle erheblich, weil sie viel zielgerichteter erfolgen und eine Nachkontrolle der Resultate ermöglichen könne. „Ich träume von einem humanitären Hub, der mit unserer Hilfe ermöglicht, als regionales Ausbildungszentrum für Ärzte, Pflege und Therapeuten vor Ort zu sein, so dass die Menschen in den Kriegsgebieten sich selbst helfen können. Nicht nur im Nahen Osten, sondern auch anderswo.“
Ein einziges Mal kamen Enrique Steiger Zweifel an seiner Mission
Nur ein einziges Mal, erinnert sich Enrique Steiger, habe er daran gedacht, aufzugeben – und zwar nach dem Überfall auf das Hospital in Ruanda, bei dem neben den Patienten auch Mitarbeiter umgebracht wurden. Er war damals mit einem kanadischen Kollegen am Operieren, als die Patienten nach der Operation kaltblütig im Krankenbett ermordet wurden. „Wir haben uns angeschaut und gesagt: ‚Das wars, lass uns gehen, es hat alles keinen Sinn.‘“
Im Anschluss darauf sei sein Fahrer zu ihm gekommen und habe gesagt: „Wenn Sie jetzt gehen, dann rauben sie den Menschen, von denen viele schon alles verloren haben, hier ihre allerletzte Hoffnung. Sie werden denken, dass das Leben und die Welt sie endgültig im Stich gelassen haben.“
Enrique Steiger und sein Kollege sind geblieben.
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