Wenn dich als Zahnmedizinstudent in Deutschland während der langen Kliniktage das Fernweh plagt, gibt es zum Glück eine hervorragende Lösung: Du machst eine Famulatur. Meine Boxpartnerin Britta und mich hat es diesen Sommer nach Bolivien gezogen. Für den Förderkreis Clinica Santa Maria e. V. (FCSM), eine kleine deutsche rein zahnärztliche Hilfsorgansisation, haben wir vier Wochen in der Region Chuquisaca rund um die ziemlich kleine Landeshauptstadt Sucre gearbeitet.
Wir, das sind zwei Zahnmedizinstudenten der Universität Hamburg nach dem 8. Semester und eine junge Zahnärztin, Mila, die vor einem Jahr in Göttingen Examen gemacht hat und jetzt zwischen zwei Praxisanstellungen ihren Urlaub für das Projekt „Bolivia movil“ einsetzt. Mobil deshalb, weil wir unsere gesamte Ausrüstung für eine einfache Zahnarztpraxis in Kisten und Werkzeugkoffern auf einem Pickup dabei hatten. Unser Einsatzgebiet waren abgelegene Internate, in denen die Schüler ohne unser mobiles Team sonst oft keinen Zugang zu zahnärztlicher Versorgung hätten.
In Bolivien war die Hilfsorganisation Fe Y Alegria, die auch die Internados betreut, unser Organisator. Sie stellte auch unseren Koordinator und Fahrer Edwin und unser Quartier in der Kleinststadt Zudañez (ca. 4.000 Einwohnern). Von Sonntagabend bis Freitag nach dem Behandeln war das unser Zuhause, wobei Haus zu viel gesagt ist, denn es fehlte die Einrichtung und Küche oder Kühlschrank. Außer einfachen Pritschen mit Wolldecken und einer Art Picknickbankgarnitur war nichts vorhanden,. Meistens gab es Strom, und der wurde gebraucht, um abend nach dem Behandeln uns
eren mobilen Sterilisator in Betrieb zu setzen.. Auch fürs Duschen war man auf Strom angewiesen, um den am Duschkopf befindlichen Durchlauferhitzer zur Arbeit zu bewegen, was manchmal gelang.
Rückblickend ist es erstaunlich, wie schnell man sich an solche Verhältnisse gewöhnt. Die Kinder, die wir in den Internados behandelt haben, schliefen auf den gleichen Betten wie wir. Mittags aßen wir mit ihnen das gleiche Essen und zum Frühstück gab es auch für uns nur Pan (Weißbrot). Je nachdem wie viele Tage alt es war (es wurde nur einmal in der Woche gebacken) war es genießbar bis steinhart. In den ersten Tagen erschien uns Bolivien einfach nur bitter arm, doch schon bald waren wir dankbar für die Erfahrung, wie gut es uns in Deutschland geht - aber auch mit was für einem Überfluss wir uns das Leben schwer machen.
Aber nun der Reihe nach. Erstmal ankommen. Die Hinreise war für Britta und mich eine halbe Weltreise.: Hamburg - London - Miami - La Paz - Sucre. Die letzte Etappe (ca. 200km Luftlinie) erfolgte ungeplanterweise mit einem Inlandsflug der bolivianischen Fluggesellschaft BOA, für die Strecke von La Paz nach Sucre hätten wir sonst eine Nacht im Bus gebraucht. Gebucht hatten wir zwei Stunden vor dem Abflug in La Paz. Für 50€ p.P flogen wir mit einer 737, die innen noch die Farben von Air New Zealand trug. ca. 40 Minuten über die Landschaftsformation, die Bolivien wohl am meisten auszeichnet: Hohe Berge und tiefe Schluchten so weit das Auge reicht: die Kordilleren, in Bolivien bis zu 6.500m hoch.
In Sucre befindet sich das Hostel International: Das ist nicht nur eine Jugendherberge sondern das Basiscamp für etliche deutsche „Voluntarios“, die mit „weltwärts“ 6 bis 12 Monate in Bolivien verbringen. Der FCSM hat sich dieser Infrastruktur angeschlossen und lagert im Hostel auch die Ausrüstung. Drei Stunden nach unserer Ankunft am Sonntag ging es für Mila, Britta und mich vom Hostel aus weiter nach Zudañez. Hinten auf dem Pickup verladen: Eine Behandlungspritsche, zwei „Einheiten“, d. H. große Hartschalenkoffer mit der Technik zum Betrieb von Sprayvit, Turbine und Winkelstück, Instrumente und alle Verbrauchsmaterialien, die wir für unsere Aufgabe brauchen würden. Es handelte sich zum großen Teil um Spenden von Praxen und Dentaldepots aus Deutschland. Nicht mit dabei: Unser Gepäck. Das war noch in Miami.
Mit Sonnenuntergang und Einbruch der Kälte (ca. 4°C) kamen wir in Zudañez an. Viel auszupacken gab es ja nicht für uns, also machten wir uns alsbald mit den Möglichkeiten vertraut, in der Stadt etwas zu Essen zu finden. Pollo con Arroz y Papas fritas. und Cerveza. Das musste an Abwechslung für drei Wochen reichen, man kann das Pollo ja durchaus unterschiedlich zubereiten. Müde von der Reise und mit dem Wecker auf kurz nach 7 Uhr gestellt führte der Weg nach dem Essen ziemlich schnell ins Bett.
In den nächsten drei Wochen haben wir in 5 Internados gearbeitet. Wir behandelten täglich zwischen 20 und 40 Patienten, überwiegend Kinder im Alter von 6 bis 18 Jahren, manchmal auch jüngere Geschwister oder die Lehrer. Von der einfachen Fissurenversiegelung bis zur komplizierten Füllung und vom Entfernen kleiner Milchzahnreste bis zur schwierigen Bergung von Wurzelresten hatten wir ein breites Behandlungsspektrum. Allerdings waren ohne Röntgen keine Endos an mehrwurzligen Zähnen möglich und ohne Labor im Hintergrund auch keine Prothetik.
Die Dankbarkeit der jungen Patienten, die für uns unvorstellbar schlecht gepflegte Zähne hatten, war eine schöne Kompensation für unsere langen Arbeitstage, die oft bis zum Sonnenuntergang dauerten.
Die Wochenenden standen uns zur freien Verfügung. Allerdings sind wir meist schon am Sonntagabend zum nächsten Einsatzort aufgebrochen. Zum Kennenlernen der sehenswerten Stadt Sucre und für eine Dreitagestour in und um die Salzwüste Salar de Uyuni hat es trotzdem gereicht. Wer mehr von Bolivien sehen will, sollte unbedingt vor- oder nachher noch etwas Zeit einplanen. Britta und ich hatten nur 9 Tage übrig. Nach den Wochen im Gebirge hatten wir eine große Sehnsucht nach Strand und Meer. Deshalb sind wir nach Rio de Janeiro geflogen, das von Santa Cruz über Sao Paolo erreichbar ist.
Wir danken dem FCSM und speziell Dr. Ekkehard Schlichtenhorst, uns diese Famulaturen ermöglicht zu haben. Wir danken auch den Firmen Pluradent, GABA und TEPE für ihre Spenden, durch die die Kinder auch nach unserer Abreise ihre Zähne pflegen können. Allen Lesern, die überlegen eine Famulatur zu machen, kann ich diese sehr empfehlen. Gesamtwertung für diese vom FCSM ermöglichte Famulatur: 5 von 5 Sternen
von Kai Becker
Universität Hamburg
28. September 2015