da denkt man wohl zuerst an Rum, Salsa und eines der letzten
sozialistisch regierten Länder der Welt. So ging es auch fünf Tübinger
Zahnmedizinstudenten, die im vergangenen Jahr zwei Monate auf dem
karibischen Inselstaat famulierten und lebten.
Unser Ziel war die gleichnamige
Hauptstadt der westlichsten kubanischen
Provinz Pinar del Rio. Der
vorher bereits durch ein deutsches
Hilfsprojekt bestehende Kontakt
kam eher zufällig zustande. Der
Verein Freundschaftsgesellschaft
Bundesrepublik Deutschland-Kuba
e.V. unterstützt die universitäre
Zahnklinik in Pinar del Rio schon
seit mehreren Jahren hauptsächlich
logistisch. Dabei kam der Wunsch
auf, einen studentischen Austausch
zu etablieren, und sie wandten sich
an den ZAD (zahnmedizinischer
Austauschdienst). So hatten wir
letztlich nach einem Jahr unzähliger
Telefonate mit der kubanischen
Botschaft, zahllosen E-Mails und
Gesprächen mit Professoren unserer
Universität in Tübingen und mit
viel Engagement die Grundlagen
zur Erkundung eines Austauschprojekts
zwischen den Fakultäten gelegt.
Die kubanische Bürokratie ließ
unsere deutsche geradezu lachhaft
simpel wirken. In Kuba potenziert
sich die überbordende Bürokratisierung
des sozialistischen Systems
mit karibischer Gelassenheit – mit
entsprechenden Auswirkungen auf
Arbeitsabläufe und Zeitvorgaben.
Doch durch die Professoren in Pinar
del Rio erfuhren wir durchweg
Unterstützung für unser Vorhaben.
Hilfsgüter hängen beim Zoll.
Mit unseren Sprachkurskenntnissen,
den kubanischen Studentenvisa
und etlichen Hilfsgütern von deutschen
Dentalfirmen für die Klinik in
Pinar del Rio brachen wir im Frühjahr
vergangenen Jahres nach Kuba
auf. Unser Enthusiasmus erhielt den
ersten Dämpfer bereits am Flughafen
von Havanna. Statt tanzender
Karibikschönheiten erwarteten uns
mürrische, uniformierte Zollbeamte,
die uns aus der Schlange der
Urlauber zogen. Jetzt warteten wir
stundenlang (wie überhaupt Warten
eine kubanische Spezialität ersten
Ranges ist) mit Kleinhändlern und
„Schmugglern“, um unser Anliegen
darzulegen. Trotz aller Erklärungen
erschien unsere Sammlung von Zangen,
Spritzen und eingeschweißten
Kunststoff-Karpulen dem kubanischen
Zoll wohl etwas verdächtig,
weshalb wir zunächst die Spenden
beim Zoll zurücklassen mussten.
Dies war für uns umso schmerzlicher,
da wir viel Zeit und Energie
in die Beschaffung und Sortierung
der Spenden gesteckt hatten und wir
von den Professoren in Pinar del Rio
wussten, wie dringend die Spenden
dort benötigt wurden. Doch das „sozialistische“
System, vertreten durch
mürrisch-gestrengeZollbeamtinnen,
zeigte sich unnachgiebig. Wo blieben
nur die Salsatänzerinnen?
Herzlicher Emfpang. Wir wurden
auch ohne die Spenden im
Gepäck in Pinar del Rio von Prof.
Tebelio Concepcion Obregon, dem
Direktor der zahnmedizinischen Fakultät
„Dr. Ernesto Che Guevarra de
la Serna“, herzlich willkommen geheißen.
Und der Student José Chico
Guerra, Vorsitzender der FEU in Pinar
del Rio (der kubanischen Vereinigung
der Universitätsstudenten),
zeigte uns unser Quartier im Stu-
dentenwohnheim. Dort bezogen wir
im Trakt der ausländischen Studen-
ten unsere WG für die kommenden
Wochen. Der dortigen Mischung
aus Studenten der Dominikanischen
Republik, Venezuela, Peru, Bolivi-
en, Guatemala und vielen weiteren
lateinamerikanischen Ländern füg-
ten wir eine europäische Note hin-
zu. In der Tat waren wir die ersten
Europäer, die an der Universitäts-
zahnklinik von Pinar del Rio stu-
dieren sollten. Europa geografisch
am nächsten lag noch die Heimat
Mohamitos, eines äußerst liebens-
werten Kommilitonen aus der von
Marokko besetzten Westsahara. Er
bewirtete uns mit seinem letzten
von zuhause mitgebrachten Tee und
zeigte bei dieser Gelegenheit Fotos
mit dem „Maximo Lider“ Fidel Ca-
stro, der ihm persönlich zum Zahn-
medizinstipendium gratuliert.
Derart herzlich aufgenommen
hatten wir uns auch recht schnell
an die Wohnumstände im Studen-
tenwohnheim gewöhnt. Und die
fehlende Wasserspülung der Toi-
lette störte uns genauso wenig wie
die auch sonst eher eingeschränkten
hygienischen Einrichtungen. Im-
merhin lieferten die Wasserhähne
jeden Tag für zweimal fünfzehn
Minuten fließendes Wasser, um die
Wassertonnen zu füllen, aus denen
wir dann mit Eimern aus chinesi-
scher Produktion die Dusche, die
Wasserarmaturen und Toilettenspü-
lung zu ersetzen lernten.
Sacamuelas. Derartig im Impro-
visieren geschult waren wir für die
Behandlungen in den Kliniken der
Stadt gewappnet. Der Materialman-
gel ist in fast allen Bereichen prä-
sent, was oftmals den Erfindergeist
fordert. So wird schon mal während
der Operation einer Unterkieferfrak-
tur die durchaus betagte Knochen-
fräse repariert. Und die Anästhesi-
stin kleidet sich in ein Gewand, das
deutlich macht, dass es einen erheb-
lichen Unterschied gibt zwischen
sauber und steril. Der deutsche
Student steht staunend daneben und
wundert sich schon fast nicht mehr
über die Kakerlake, die gemächlich
in einer Ecke verschwindet. Davon
völlig unabhängig ist das Geschick
der Operateure, die, könnten sie un-
ter europäischen Bedingungen ar-
beiten, sicherlich auch bei uns mehr
als bestehen würden. Im kleinen OP
der Mund-, Kiefer- und Gesichts-
chirurgie konnten wir Studenten
direkt von der Erfahrung der Pro-
fessoren profitieren. Dort führten
wir, unter deren Aufsicht, (Reihen-)
Extraktionen durch, auch von ver-
lagerten Zähnen, und wurden dabei
von Tag zu Tag zu routinierteren
„Sacamuelas“ („Zahnreißern“).
Auch beimeigentlichenBehandeln
in der Zahnklinik war die Betreuung
immer vorbildlich, ein Professor be-
treut hier zwischen zwei und fünf
Studenten. Wir arbeiteten meist im
Team mit einem kubanischen Stu-
denten und konnten uns beimBehan-
deln in der zunächst ungewohnten
Situation im Zweifel auch an unsere
kubanischen Kommilitonen wenden.
Die kubanischen Studenten ar-
beiten nicht wie in Deutschland in
Kursen, die nach bestimmten zahn-
medizinischen Disziplinen einge-
teilt sind, sondern behandeln jeden
vorliegenden Fall. So ist dort das in
Deutschland diskutierte integrierte
Behandlungs- und Ausbildungskon-
zept ganz selbstverständlich ver-
wirklicht. Allerdings ist das bei der
in Kuba gegebenen oben beschrie-
benen Betreuung auch deutlich
leichter zu verwirklichen. Darüber
hinaus behandeln die kubanischen
Studenten sehr viel mehr Patienten
pro Tag.
Theorie und Praxis. Anderer-
seits sind die Möglichkeiten der
Behandlung auf Kuba stark einge-
schränkt. So sind Kunststofffüllun-
gen allein auf die Front beschränkt
und werden trotz aktueller theoreti-
scher Kenntnisse aufgrund des Ma-
terialmangels zum Teil nur mittels
Schmelz-Ätz-Technik eingebracht.
Uns dagegen war die Präparation
von retentiven Frontzahnkavitäten
doch eher fremd. Wie gerne hätten
wir in solchen Situationen das Ma-
terial, das noch immer im Zoll in
Havanna war, zur Hand gehabt.
Ebenfalls nicht der Tübinger
Lehrmeinung entsprach die Doktrin,
dass im Molarenbereich material-
bedingt Endodontie nicht indiziert
und maximal eine Formogresol-Be-
handlung versucht wird. Als Ergeb-
nis dieser Behandlungsvorgaben,
des hohen Patientendurchsatzes
und der intensiven Betreuung der
kubanischen Studenten, wiesen die-
se deutlich mehr Erfahrung im Be-
reich der Chirurgie auf, besonders
bei Extraktionen.Wir tauschten uns
mit unseren kubanischen Kommili-
tonen aus, wie wir in Tübingen den
vorliegenden Fall behandeln würden.
Im Gegenzug erläuterten sie
uns, wie der entsprechende Patient
in Pinar del Rio behandelt wird.
Daran hielten wir uns zumeist, da
diese unter den von Materialmangel
geprägten Bedingungen oft auch uns
als Therapie der Wahl einleuchtete
wie beispielsweise Extraktionen.
Neben diesen führten wir natürlich
auch konservierende Behandlungen
durch, vor allem Amalgam- und
Glasionomerzementfüllungen im
Seitenzahnbereich sowie die oben
erwähnten Kunststofffüllungen in
der Front. Daneben kamen auch
Wurzelkanalbehandlungen,
Abszessdrainagen
und Kinderbehandlungen
vor.
Neben der zum Teil
stark von der Tübinger
Schule abweichenden
Behandlungsmethoden
verblüfften uns
anfangs auch die Behandlungsverhältnisse.
So fiel selbst in der
Klinik, die die größte
ihrer Art in der gesamten
Provinz ist, und der
Mund-, Kiefer- und
Gesichtschirurgie regelmäßig
das Wasser
aus.
Kein Wasser. Da
ohne Wasser nicht
behandelt werden konnte, kam es
während der Famulatur etliche Male
vor, dass wir morgens in der Klinik
antraten, um zu arbeiten, dann aber
unverrichteter Dinge wieder umkehren
mussten, weil es mal wieder
hieß „No hay agua!“ („Es gibt
kein Wasser!“). Doch auch wenn es
Wasser gab, wunderte uns anfangs
so einiges. Zum Beispiel hatte jeder
Student eine persönliche Zahnarzthelferin
– theoretisch. Denn die einzige
zahnmedizin-assoziierte Aufgabe
dieser sympathischen Damen
war das Anmischen von Amalgam
und Kalziumhydroxid, die restlichen
95 Prozent ihres Arbeitstages
verbrachten sie mit dem Zupfen
ihrer Augenbrauen und ausgiebiger
Maniküre. So wurde zwar weder
abgesaugt noch angereicht, aber ihr
Äußeres war stets makellos. Wenigstens
die Helferinnen arbeiteten
also am Erhalt des Klischees der
Karibikschönheit.
Freizeit. Die Wochenenden in
Pinar del Rio gehörten dann der
Freizeit. Besonders unsere Kommilitonen
aus der Dominikanischen
Republik verstanden es ausgezeichnet,
uns die karibische Musik und
die äußerst „körperbetonten“ Tänze
nahe zu bringen. Neben dem Feiern
konnten wir natürlich nicht auf
Ausflüge an die Strände der Provinz
verzichten.Will man zu den Traumstränden
mit azurblauem Meer und
Korallenriffen direkt am weißen
Sandstrand gelangen, muss man fast
120 Kilometer fahren, was bei dem
dortigen Straßenzustand durchaus
vier Stunden in Anspruch nehmen
kann. Nur 20 Kilometer von Pinar
del Rio entfernt liegt hingegen eines
der landschaftlichen Hauptsehenswürdigkeiten
Kubas, das „Valle de
Viñales“. Dort ragen Kalksteinfelsen
mehrere hundert Meter in den
Himmel, umgeben von Tabakfeldern
auf roter Erde, auf denen der
beste Tabak Kubas (und laut einheimischen
Kennern natürlich der
„beste Tabak der Welt“) gedeiht.
Hierher fuhren wir mit den Rädern,
die wir uns notwendigerweise in
Pinar del Rio zugelegt hatten. Mit
dem Erwerb der drei Räder hatten
wir das momentane Kontingent
der Stadt aufgekauft und konnten
kubanisch reisend, jeweils einen
Kommilitonen auf den Gepäckträger
laden.
Der öffenliche Nahverkehr in dieser
Provinz besteht,wennüberhaupt,
aus Pferdewagen und unregelmäßig
verkehrenden Bussen oder rußenden
Vehikeln. Mit diesen brauchten wir
in den ersten Tagen für die sieben
Kilometer vom Wohnheim zu den
Kliniken fast eine Stunde – nachdem
wir eine halbe Stunde gewartet
hatten. Warten ist eben ein essentieller
Bestandteil des kubanischen
Lebens. Dass sich dieses Ausharren
meist lohnt, beweist, dass die im
Zoll versackten Spendenmaterialien
ein paar Wochen nach unserem Abflug
doch noch wohlbehalten
in Pinar del
Rio ankamen.
Erfahrung. Trotz
mancher Widrigkeiten,
die oftmals
durch das in Kuba
herrschende System
bedingt und den
Menschen vor Ort
durchaus bewusst,
hatten wir das große
Glück, in Pinar del
Rio von sehr engagierten
und interessierten
Professoren
und Studenten, nicht
nur in der Zahnmedizin,
viel lernen
zu können. Wir
machten praktische
Erfahrungen, die zu sammeln im
deutschen Lehrbetrieb unmöglich
ist. Nicht zuletzt haben wir im ständigen
Kontakt mit Kommilitonen,
Patienten und vielen Kubanern,
vom Obstverkäufer bis zum Wohnheimspförtner,
unsere Spanischkenntnisse
und Weltanschauungen
immens erweitern und bereichern
können.
Im April verließen wir Pinar del
Rio mit vielen Erfahrungen, Eindrücken,
neuen Bekanntschaften
und Freunden sowie Plänen, wie die
Arbeit am Projekt eines Austauschs
zwischen den Fakultäten in Pinar
del Rio und Tübingen fortgesetzt
und hoffentlich auch verwirklicht