von Hanns-W. Hey Oktober 2015
Nachdem der letzte Autokrat Kirgistans, Präsident Bakijev, 2010 im Verlauf eines
blutigen Volksaufstands emigrieren musste, wurde Rosa Otunbaeva, bis dahin mehrfach Außenministerin und Botschafterin in London und Washington, zur kommissarischen Regierungschefin ernannt, auf eigenen Wunsch begrenzt auf die Dauer eines Jahres. In dieser kurzen Zeit gelang es ihr, trotz heftiger Interessenkon¬ flikte eine an demokratischen Prinzipien orientierte Verfassungsreform mit Beschnei¬ dung der Machtbefugnisse des Präsidenten formulieren zu lassen und durch eine erfolgreiche Volksabstimmung zur Basis einer neuen parlamentarischen Demokratie zu machen. Auf dieser Grundlage wurden im Verlauf einer von der OSZE beobachteten und akzeptierten Wahl im Jahr 2011 Präsident Atambajew und eine Koalitionsregierung unter Führung der Sozialdemokraten gewählt, die jetzt, bei der aktuellen Neuwahl am 4. Oktober 2015, erneut vom Volk bestätigt wurde. Re¬ gie¬ rungs¬ chef Sarijew „sprach bei seiner Stimmabgabe in Bishkek von der transparente¬ sten Wahl seit der Unabhängigkeit des Landes (von der Sowjetunion) 1991“, für Atambajew ging mit dieser Abstimmung “der Traum der ersten freien Abstimmung in der Geschichte des Landes“ in Erfüllung (AHK Zentralasien v. 21.10.15).
Dies alles erscheint deshalb bedeutsam, weil Kirgistan damit nicht nur von der einzigen demokratisch legitimierten Regierung in Zentralasien geführt wird – wenn man die autoritären Regierungen der Nachbarländer, Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan betrachtet und auch China und Russland in den Ver¬ gleich einbezieht, dann bleibt Kirgistan sogar die einzige Demokratie Asiens. Dies und die Tatsache, dass das Land seine Veränderung einer Frau verdankt, die diese
Wandlung initiiert und befördert hat, obwohl das Verhältnis der Geschlechter, die
Strukturen von Familien und Clans der Halbnomaden eindeutig patriarchal orientiert
sind, kann nicht hoch genug bewertet werden und verdient deshalb die Unterstüt¬ zung der entwickelten Länder.
Natürlich gibt es nach wie vor erhebliche Probleme, Korruption und Vetternwirt¬ schaft, undurchsichtige Bereicherungen Privilegierter auf der einen Seite, anderer¬ seits eine große Zahl Armer und Bedürftiger, die von weniger als 2%) am Tag zu leben versuchen. Allerdings sind auch permanente Bemühungen der Regierung zu beobachten, selbst hohe Repräsentanten des Staatsapparates abzusetzen und zur Rechenschaft zu ziehen, wie z.B. “den Chef der Präsidialadministration Danijar Narimbajew, der am 22.7.2015 wegen des Verdachts von Korruption und Amtsmiss¬ brauch verhaftet wird.“ (ZA-Analysen Nr. 93 v. 18.9.2015). Verstärkt wird in Kirgistan auch gegen Mitglieder und Sympathisanten des IS vorgegangen. So sind am 16.Juli vier IS-Mitglieder getötet worden, die Anschläge in Bishkek und auf die russische Militärbasis in Kant geplant hatten, eine Woche später unterzeichnete Präsident Atambajew als Reaktion auf die Zunahme terroristischer Aktivitäten diverse Ver¬ schär¬ fungen des Strafrechts, und “Premier Sarijew sprach sich gegen Hidschabs und Kopftücher aus, da sie nicht der kirgisischen muslimischen Tradition entsprächen.“ Weiterhin berichtete Felix Kulow, der Führer der Ar-Namys Fraktion im Parlament, der Verteidigungsrat habe am 10.September beschlossen, Kirgisen, die sich dem IS angeschlossen haben, die Staatsbürgerschaft abzuerkennen.
Diese Informationen stammen ebenso aus der aktuellen Ausgabe Nr.93 der Zentral-
Analysen (Herausgeber: Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen und
Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde) wie die bemerkenswerte Meldung, dass
“nach den Ergebnissen einer Untersuchung der Geistlichen Verwaltung der Muslime
Kirgistans 60% der Imame in den Gebieten des Landes nicht in der Lage sind, den
Koran zu lesen“. Imame sollen deshalb künftig aus einer privat finanzierten Stiftung
bezahlt werden.
Mittel- und langfristig konsequent, vernünftig und nachhaltig ist in diesem Zu¬ sam¬ men¬ hang natürlich auch die Verdoppelung der Bildungsausgaben Kirgistans -
von 189 Mill. auf 384 Mill. US-Dollar in den letzten 5 Jahren, die mit 23,4% fast ein
Viertel der Staatsausgaben ausmachen, weltweit der höchste Anteil (auch dies eine
Meldung der ZA-Analysen). Das Land hat ja ohnehin schon seit Jahren eine der
niedrigsten Analphabeten-Raten. Nach Schul- und Hochschulausbildung stehen
trotzdem viele ,junge Leute auf der Straße. Die wirtschaftliche Gesamtsituation ist
prekär: Laut Statistik von 2013 waren über 40% der 14 bis 28-Jährigen ohne Arbeit.
Manche Frauen müssen nach ihrem Universitätsabschluss als Putzfrau arbeiten,
Männer als Taxifahrer - oder ins Ausland gehen. Das BIP pro Person betrug 3,2
Dollar pro Tag, ohne die Überweisungen der 1,2 Millionen Kirgisen, die im Ausland
(meist Russland, Kasachstan) arbeiten, können viele Familien nicht überleben - und
diese Überweisungen sind in diesem Jahr noch einmal um ein Drittel zurück gegangen.
So sehr die Bemühungen und Gesetzesinitiativen von Parlament und Administration
anzuerkennen sind, so zögerlich wird deren mentale und praktische Umsetzung in
den gesellschaftlichen Alltag realisiert. Am deutlichsten ist dies im Verhältnis der
Geschlechter zueinander zu beobachten. Obwohl die neue Verfassung die Gleichheit
von Mann und Frau gesetzlich fixiert, dominiert das Patriarchat nahezu jede Familie,
ein Zustand, der sich nach der Unabhängigkeit vom areligiösen Sozialismus der
Sowjetzeit durch das Wiederaufleben des Islam ebenso vertieft hat wie durch die
Rückbesinnung vieler Kirgisen auf die Clanstrukturen der Halbnomaden. Die Folgen -
Brautraub, Zwangsheirat und Verweigerung der Rechte der Ehefrau durch den Mann
und seine Eltern führen bei Gegenwehr nicht selten zu sklavenähnlicher Unter¬ jo chung, physischer Gewaltanwendung und existentieller Bedrohung. Der Ombuds¬ mann der Regierung konstatierte für das Jahr 2014 erneut 3615 Straftaten gegen Frauen und Mädchen, darunter Mord, Körperverletzung, Vergewaltigung und Zwangs¬ verheiratung.
Viele dieser Übergriffe entstehen entweder dadurch, dass Ehemänner gesetzwidri¬ ge, aber von einem Imam abgesegnete Eheverhältnisse mit einer Zweit- oder Dritt¬ frau eingehen, und die erste Frau, falls sie ihre Zustimmung verweigert, mit den Kindern ohne finanzielle Absicherung auf die Straße gesetzt wird. Oder die Frauen verlassen ihre Ehemänner, wenn diese durch Alkohol oder Spielsucht die Familie wirtschaftlich ruiniert haben.
Die Gewalttätigkeiten gegen Frauen fühlten vor über 10 Jahren zur Gründung der
Frauen-Schutzorganisation SEZIM durch die Sozial-Therapeutin Bubusara
Ryskulova. lhre Organisation betreibt ein Shelter in Bishkek, wo misshandelte, exi¬ sten¬ tiell bedrohte und suizidgefährdete Frauen akut medizinisch und psychologisch behandelt werden. Vom Shelter, eine durch vergitterte Fenster, Videoüberwachung und eine kleine private Polizeieinheit gesicherte Abteilung des Krankenhauses Nr.4 in Bishkek, das die Frauen nur zur Erstversorgung aufnimmt, können die Frauen danach, auch mit ihren Kindern, für die Dauer von bis zu sechs Monaten in das Transithaus NUR wechseln, das vor vier Jahren nach einer Initiative von Eleonore von Rotenhan durch die Kirgistan-Hilfe der Bayerischen Ostgesellschaft gegründet und mit jährlich 8000 € Spendengeldern unterstützt wird (für Miete, Verpflegung, Energiekosten und 2 Sozialarbeiterinnen). In diesem Haus, das sich ebenfalls durch eine Mauer und vergitterte Fenster vor gewalttätigen Männern, die ihre Frauen zurückholen wollen, zu schützen versucht, können gleichzeitig bis zu acht Frauen mit einem oder mehreren Kindern leben und psychologisch und juristisch betreut wer¬ den, um eine evtl. Rückkehr in die Familie abzuklären oder sich auf ein selbst be¬ stimm¬ tes Leben mit der Suche nach einem Arbeitsplatz vorzubereiten.
So konnten wir in den letzten Jahren mit dem Geld unserer Spender dazu beitragen,
vielen, z.T. jahrelang schwer traumatisierten Frauen auf dem Weg in ein selbst
bestimmtes Leben Hilfe zu leisten. Da ist z.B. Aynagul, deren Mann sie verließ, als
sie mit dem vierten Kind, das-er sich gewünscht hatte, schwanger war. Im NUR-Haus
bekam sie das Baby, mietete dann zwei kleine Nähräume und stellt seither mit drei
angestellten Frauen Arzt- und Krankenhauskleidung her. Vor zwei Jahren habe ich
bereits darüber berichtet. Der Erlös reichte gerade, um die Angestellten zu bezah¬ len, das Material zu kaufen und Essen für sich und die Kinder zu kaufen. Mit denen lebte sie in einem 9 m2 Nebenraum, auf einem Hocker stand ein Elektrokocher, in der Ecke lagen die zusammen gerollten Decken für die Nacht, die einzige Toilette war der Hof und Wasser gab es nur beim Nachbarn. Wegen dieser untragbaren Situation hat Aynagul inzwischen günstigere Räume mieten können und jetzt einen unserer Minikredite in Anspruch genommen, um zwei oder drei eigene Nähmaschi¬ nen kaufen zu können.
Diese Minikredite über jeweils 500%), die nach Ablauf von zwei Jahren zurück gezahlt werden sollen, sind unser zweites Projekt, für diejenigen Frauen bestimmt, die sich nach ihrem Aufenthalt in unserem NUR-Haus dazu entschlossen haben, sich
selbstständig eine Existenz aufzubauen. So Nurilja Kokejeva für einen Lehrgang für
Buchführung und den Erwerb eines Computers, oder Rahad Mambetalieva, die von
dem Geld einen Herd und einen Kühlschrank gekauft hat und damit Essen in einem
kleinen Kiosk verkauft.
Das dritte Hilfsprojekt, das wir mit dem Geld unserer Spender realisieren, besteht
aktuell aus 19 monatlichen Minirenten über 20%) für besonders Bedürftige, meist
allein stehende Alte, Frauen mit Kindern oder, noch immer seit drei Jahren, für eine
Familie, die von etwas Geld "lebt", das der Vater für Gelegenheitsarbeiten und das
Aufsammeln herabgestürzter Steine auf die benachbarten Gleise der Eisenbahnlinie
erhält. Seit 17 Jahren liegt seine abgezehrte Frau bewegungslos auf dem Kranken¬ lager, von den beiden Kindern, die an der Autoimmunerkrankung Lupus Ery¬ the¬ ma¬ to¬ des leiden, lebt nur noch die 23-jährige Tochter, der 25-jährige Sohn starb letztes Jahr und hinterließ Frau und Kind.
Für diese Projekte brauchen wir zusammen pro Jahr den Betrag von 13600%, den
wir für das Jahr 2015 unserem Partnerverein in Kirgistan bereits übergeben konnten.
Zur steuerfreien Verwendung der Spendengelder ist hier wie in Kirgistan die Abwick¬ lung über einen gemeinnützigen Verein gesetzlich vorgeschrieben, wofür hier die Kirgistan-Hilfe der Bayerischen Ostgesel/schaft e.\/., in Kirgistan die Kirgistan- Hilfe Kirgistan e. V. eingerichtet wurde. Vorsitzende in der Hauptstadt Bishkek ist seit Anfang an unsere vertraute Aijana Ibraimova, die zusammen mit ihrer Mutter die Spendengelder gewissenhaft verteilt und dokumentiert. Zur Einsparung teurer
Überweisungen geben wir die Spendengelder jeweils dem kirgisischen Honorarkon¬ sul Reinhold Krämmel mit, der das Land regelmäßig bereist. Da wiraußerdem alle unsere Reisen und Ausgaben für die Kirgistan-Hilfe selbst bezahlen,entstehen außer Porto für die Verwaltung der Spenden-Gelder praktisch keine Kosten.
Unsere Transporte von medizinischem Equipment, Krankenhausbetten, Rollstühlen,
Gehhilfen, medizinischem Verbrauchsmaterial, Kleidung und Schuhen sind, wie
bereits berichtet, nach acht Jahren eingestellt worden, einerseits deshalb, weil die
hohen Transportkosten nicht mehr gesponsert werden konnten, und die Kliniken
andererseits inzwischen von größeren ausländischen Organisationen Hilfe erhalten.
Die fünfzehn von uns in verschiedenen Regionen des Landes eingerichteten
Zahnbehandlungsstationen sind in Betrieb und funktionieren. Allerdings wird an
manchen Orten in Kirgistan inzwischen mit chinesischen Geräten behandelt, die, da
sie u.a. auf Absauganlage und Amalgamabscheider verzichten, neu weniger als
4000 $ kosten und damit fast günstiger zu beschaffen sind als aus Deutschland trans¬ portierte Gebrauchtgeräte. Zudem gibt es für das chinesische Equipment
landessprachliche Bedienungsanleitungen und Service-Möglichkeiten.
Mit diesem Bericht möchten wir uns bei allen Spendern, die mit ihren Zuwendungen unsere Hilfsprojekte unterstützt haben, herzlich bedanken. Angesichts der drin¬ gen¬ den Hilfe für die vielen Flüchtlinge in Deutschland müssen wir natürlich dafür Ver¬ ständ¬ nis haben, wenn sich Manche(r) in diesem Jahr hier engagiert. Trotzdem bitten wir Sie, wenn irgend möglich, unsere Arbeit weiter zu unterstützen. Gerade dort, wo die Zuwendungen sich als so erfolgreiche Hilfe zur Selbsthilfe erweisen, sind unsere Spenden eine wichtige und sinnvolle Investition, damit die Leute ihr Leben in ihrem Heimatland Kirgistan fortführen und im eigenen sozialen Umfeld bleiben können.
Am Montag, 16.November um 19 Uhr werden meine Frau und ich erneut überunse¬ re Projekte in Kirgistan berichten, mit ein paar Bildern der von uns unterstützten Bedürftigen und der Frauen im NUR-Haus.
Die Veranstaltung findet wieder im Haus des Deutschen Ostens statt, Am Lilienberg 5, gegenüber dem Gasteig-Kulturzentrum, S-Bahnhof Rosenheimer Platz, Ausgang Scheiblinger Straße.
Im Haus des Deutschen Ostens finden Sie uns im 2.Stock links am Gang-Ende im
letzten Raum.
Weitere Informationen, Bilder und Filme auf unserer Website
www.kirgistan-hilfe.de
Wenn Sie an diesem Abend verhindert sind, die Kirgistan-Hilfe aber unterstützen
möchten, hier sind die Daten unseres Spendenkontos:
Bayerische Ostgesellschaft -
Stichwort Kirgistan-Hilfe
IBAN DE14 7015 0000 0908 2302 20
Dr.Hanns-W. und Karla Hey
Kirgistan-Hilfe der Bayerischen Ostgesellschaft e.V.
Riedweg 5
82541 Münsing