Der enge Kontakt zur jeweiligen Regierung, und sei sie politisch auch noch so umstritten, ist für Mercy Ships besonders wichtig. Denn dadurch sei die Sicherheit der Freiwilligen eher gewährleistet – und man könne auf die Unterstützung der Behörden vor Ort bauen. Außerdem erleichtere es die Einreise- und Zollformalitäten, was bei einem Schiff dieser Größenordnung und mehr als tausend Menschen, die dort während eines Jahres Dienst tun, keine Kleinigkeit sei, sagt Martin Dürrstein, der Vorsitzende von Mercy Ships Deutschland. „Wir gehen in kein Land, in dem wir nicht willkommen sind.“
Dürrstein ist zugleich der Vorstandsvorsitzende von Dürr Dental, einem weltweit operierenden Medizingerätehersteller aus Bietigheim-Bissingen, der die Organisation mit Gerätespenden unterstützt und es schon einem Dutzend Mitarbeiter ermöglicht hat, auf dem Schiff zu helfen. „Ich war selbst fünf Tage auf der Africa Mercy“, sagt Martin Dürrstein, „das ist ein nachhaltiger Eindruck – und ich weiß seitdem, dass die Hilfe wirklich Hand und Fuß hat.“ Oder in der Sprache eines schwäbischen Firmenchefs: „Da kommt hinten was raus.“
Auf Madagaskar beginnt im Herbst 2014 der medizinische Einsatz mit umfangreichen Voruntersuchungen. Informiert über Krankenstationen in Städten und auf dem Land, kommen potenzielle Patienten, die dann genauer angesehen werden. In Tamatave strömen 2000 Menschen zum ersten Termin, sie stehen in langen Warteschlagen um die Häuserblocks, 163 erhalten Patientenkarten für eine Behandlung an Bord. Diese Prozedur wiederholt sich in den nächsten Monaten noch mehrfach.
„Das ist hart, aber notwendig“, sagt Annette Frick. Es sei nur sinnvoll, Menschen zu behandeln, die innerhalb der Zeit, in der das Schiff vor Ort sei, gesund werden könnten. Krebspatienten, die einer langjährigen Nachsorge bedürften, würden beispielsweise nicht aufgenommen. Dann klappt die Ärztin ihr Fotobuch auf und erzählt von ihrem letzten Einsatz in Westafrika.
Das Mädchen mit dem Tumor im Gesicht
Sie zeigt das Bild von Sahena, die einen fast fußballgroßen Tumor im Gesicht hat, der Augen, Nase, Mund zu überwuchern droht. Die junge Frau lebte in ihrem Dorf im sozialen Abseits, weil derartige Entstellungen als Fluch gelten. „Diese Menschen werden wie Ausgestoßene behandelt“, sagt Annette Frick. „Schon wenn wir sie ansehen, berühren und untersuchen, ist das für sie ein Zeichen, dass sie angenommen werden, so wie sie sind.“ Nach mehreren Operationen zeugt heute nur noch eine Narbe von dem Tumor. „Für Sahena ist das die Chance auf ein neues Leben.“
Oder Francesca, ein junges Mädchen, dessen Kiefer versteift war und das kaum noch essen konnte. „Sie war dem Tod geweiht“, sagt Annette Frick. Dank einer speziellen Inkubationstechnik und sehr aufwendigen Eingriffen ist es gelungen, sie zu heilen. Einem jungen Mann, der am Grauen Star litt, erblindete und in seinem Heimatdorf als von Dämonen verflucht galt, gibt ein Routineeingriff die Sehkraft zurück. Annette Frick erzählt von jungen Frauen mit Blasen- und Scheidenfisteln so groß wie Kinderköpfe. Sie werden von der Gemeinschaft ausgestoßen. „Eine haben wir in einem Stall gefunden“, sagt sie.Und was bedeutet der Einsatz mit vielen Kollegen aus aller Herren Länder auf dem Schiff für die Ärztin selbst? „Fachlich ist das eine Zusammenarbeit nach standardisierten Verfahren“, meint Annette Frick, „von der Atmosphäre her ist es ein bisschen wie in einer Jugendherberge.“ Zum Tagesablauf gehören Andachten und Gebete, mitunter besucht sie einheimische christliche Gemeinden und ist begeistert, „mit wie viel Elan dort Gott gelebt wird“.
Vieles in unserer westlich geordneten Gesellschaft sieht Annette Frick inzwischen gelassener, und für vieles ist sie dankbar. „Es ist ein Glück, dass ich hier geboren wurde und aufgewachsen bin, meinen Traumberuf ergreifen konnte und immer genug habe.“ Der Verdienstausfall, den der Einsatz mit sich bringt, das geplünderte Sparkonto für die Flugkosten, die wechselnden Mietwohnungen – „das kann ich mir leisten“, sagt sie. Die Ärztin bringt aus Afrika nicht nur die Dankbarkeit der vielen Patienten mit, sondern auch die Gewissheit, dass „ich vielen Herausforderungen gewachsen bin, dass ich meine Grenzen kenne und Gottes Liebe weitergeben kann“. Das sei ihr mehr wert als touristische Attraktionen, sagt Annette Frick und klappt das blaue Fotobuch zu.