ichel Martelly findet, dass Deutschland ein schönes Land ist. Nur etwas kalt, scherzt der Präsident von Haiti, der am Mittwoch in Berlin ist und an der Seite von Angela Merkel im Bundeskanzleramt steht. Aber dafür habe die Kanzlerin ja Wärme im Herzen. Merkel ist es irgendwann in jüngster Zeit offenbar auch zu kalt gewesen, jedenfalls deutet ihre Stimme auf den Kampf mit einer Erkältung hin. Das warme Haiti mag da ein verlockendes Reiseziel sein, aber nüchtern, wie Merkel ist, verspricht sie erst gar nicht, in die Karibik zu reisen. Es fehlt mal wieder die liebe Zeit. Sie hat ja den Bericht ihres Gastes. Der dankt den Deutschen für alles, was sie nach dem Erdbeben vor vier Jahren getan hätten. Über den Bau von Schulen berichtet er, erzählt, dass von 1,7 Millionen Obdachlosen nach dem Beben 85 Prozent schon wieder eine Bleibe hätten. Er gibt sich selbstbewusst. Haiti wolle nicht nur Empfängerland sein, sondern auch Geschäftspartner.
Gut zwei Stunden später, Martelly empfängt im Hotel Adlon zum Gespräch, folgt die Meta-Botschaft. „Straßen, Gebäude - Infrastruktur ist gar nicht meine Priorität“, sagt er dieser Zeitung. „Mir sind die Köpfe der Menschen wichtiger.“ Er wolle das Vertrauen der Menschen in die Politik wiederherstellen. Vor seiner Zeit hätte niemand den Politikern zugehört. Bei ihm sei das anders: „Die Menschen hören mir nicht nur zu, sie machen, was ich sage - wenn ich sage, ,geht nach rechts‘, dann gehen sie nach rechts.“
Michel Martelly ist der Präsident der offenen Baustellen. An unzähligen Orten Haitis sind die Straßen aufgerissen. Zwar liegt das in den seltensten Fällen daran, dass gebaut wird. Aber doch prägen immer wieder Baustellen das Stadtbild der Hauptstadt. „Tôle rouge“ sei, was Martelly hervorbringe, heißt es in Port-au-Prince: rotes Blech zur Baustellenabsicherung - und nichts dahinter. Ob das für die entsprechenden Bauvorhaben notwendige Geld von Anfang an nicht ausreichte oder ob ein zu großer Teil davon in private Taschen wandert, darüber hört man unterschiedliche Einschätzungen. An den privaten Baustellen der Familie Martelly ist die Bautätigkeit jedenfalls nicht eingeschlafen. Der Präsident lässt sich am Strand vor der Hauptstadt ein neues Anwesen bauen.
Als Sänger eine Wucht
Haitis Botschaft in Berlin verteilt eine Broschüre, auf der Modelle mit glänzenden Fassaden öffentlicher Gebäude abgebildet sind. Gebaut wurde davon bislang keines. Als Sänger und Keyboarder sei „Sweet Mickey“ eine Wucht gewesen, heißt es aus Port-au-Prince. Aber als Präsident sei er eine Pleite.
So sind etwa die Parlaments- und Regionalwahlen seit drei Jahren überfällig. Nicht zuletzt auf Druck der UN und der Vereinigten Staaten sollten sie nun endlich am vergangenen Sonntag stattfinden. Doch auch daraus wurde nichts. Haitis Präsidialamt kündigte eine Verschiebung der Wahl auf unbestimmte Zeit an. Eigentlich hätten zwanzig Senatoren und 102 Abgeordnete gewählt werden sollen. Doch dem präsidialen Dekret, die Wahl am 26. Oktober abzuhalten, folgte der Senat nicht. Vor allem sechs Senatoren sind es nach Lesart Martellys, die jede Entscheidung blockieren. Vielleicht, weil sie gern an ihrem nicht mehr rechtmäßigen Amt festhalten würden. Oder, wie einige der Senatoren immer wieder äußern, weil sie Martelly diktatorische Bestrebungen unterstellen. Sollten die Wahlen nicht bis zum Ende des Jahres abgehalten werden, würde das Parlament laut Verfassung im Januar aufgelöst, und der Präsident müsste per Dekreten regieren. Vor allem entzündet sich der Streit an der Benennung der Mitglieder einer Wahlkommission. Ohne dieses Gremium können offiziell keine Wahlen durchgeführt werden.
Wird Haiti also bald unregierbar? Mit einem lässigen „Oh, come on“, verdeutlicht der Präsident Haitis, dass er sich vor einer solchen Lage wenig fürchtet. „Dann greift Verfassungsparagraph 136.“ Er habe kein Problem, per Dekret zu regieren. „Ein Land muss regiert werden.“ Martelly lässt wenig Zweifel daran, dass er der nach dem Ende der Duvalier-Diktatur geänderten Verfassung, die vielen Gremien Mitsprache zuspricht, eine Mitschuld an der Lage gibt: „Seit 1987 war jede Wahl eine Krise.“
Wichtiger Drogenumschlagsplatz
Als Martelly im Sommer per Dekret einen ihm genehmen Anwalt und früheren Freund der Duvaliers in die Wahlkommission berief, blockierte der Senat jeden Einigungsversuch. Familie Duvalier hat zwei der schrecklichsten Diktatoren des Landes hervorgebracht: François („Papa Doc“) und Jean-Claude („Baby Doc“). Martelly wiederum soll seinen damaligen Spitznamen „Sweet Mickey“ von einem der damaligen Polizeichefs bekommen haben - weil er den Eliten der Duvalier-Zeit so gute Unterhaltung bot: „Sweet Mickey“ trat dann und wann in Frauenkleidern oder Windeln auf.
Nach den abgesagten Wahlen gingen am Wochenende Tausende sogenannter Regierungsgegner auf die Straße. Sie forderten den Rücktritt Martellys. Die Armut und Verzweiflung der Armen ist real: Drei Viertel der Haitianer sind arbeitslos, mehr als die Hälfte lebt von umgerechnet weniger als zwei Dollar am Tag, Mangelernährung grassiert. Und doch entstehen diese scheinbar spontanen Demonstrationen selten einfach so. Oft bezahlen die jeweiligen politischen Gegner Agitatoren dafür, dass diese das Volk aufwiegeln.
Insbesondere seit der Rückkehr des einst demokratisch gewählten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide, dessen vorerst letzte Amtszeit zu einer Schreckensherrschaft wurde, wird im politischen Schnellkochtopf des völlig verarmten Landes gerührt. Noch immer unvergessen sind die „Chimères“, die Milizen des sich politisch links gebenden Populisten, die Tausende Regierungsgegner umgebracht haben sollen. Gegen Aristide, der 2011 aus dem erzwungenen Exil in Südafrika nach Haiti zurückkehrte, sind verschiedene Verfahren anhängig - eines wegen Beteiligung an dem weit verbreiteten Drogenumschlag. Manche sagen, Martelly versuche mit allen Mitteln, die Partei des ersten demokratisch gewählten Präsidenten Haitis von einer Wahl fernzuhalten.
Haiti gilt als einer der wichtigsten Drogenumschlagsplätze für südamerikanisches Rauschgift in der Region, die von dort aus den nordamerikanischen Markt bedient. Martelly findet, dass das ein Problem der Vergangenheit ist. „Haiti ist kein Narco-Staat mehr.“ Wenn die Probleme derart groß wären, „dann hätte mir das der Premierminister gesagt“.
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Quelle: F.A.Z.