Mit Herz und Bohrer

#1 von carlos , 08.08.2010 23:04

Der Neuruppiner Zahnarzt Matthias Richter schenkte sich zum 50. einen Hilfseinsatz in der Mongolei

Ama ann'ga! Mund auf! Diese Vokabel wird Matthias Richter so schnell nicht vergessen. Zehn Tage lang hat der Neuruppiner Zahnarzt im Herzen Asiens gearbeitet – im 6000 Kilometer entfernten Tsetserleg, der Kreisstadt der Region Archangai in der Mongolei.

Zu seinem 50. Geburtstag hatte sich Matthias Richter den Auslandseinsatz geschenkt. Statt ihm Blumen und Bücher zu kaufen, sammelten seine Gäste mit. So kam das Geld zusammen für Spritzen, Kanülen und Füllungen, die der Arzt in die Mongolei mitnahm. Alles andere bezahlte er selbst. Die Ruppiner Kliniken und die Ruppin-Zahntechnik GmbH unterstützten ihn zusätzlich, auch während der Vorbereitung. In den Tagen vor der Abreise am 11. Juli hatte Richter in der Zahn- und Kieferchirurgie mitgearbeitet, um sein operatives Wissen wieder aufzufrischen – und fit zu sein für den Fall der Fälle.

Fünf Zahnärzte kümmern sich in der Region Archangai um die 90 000 Einwohner. Drei davon bieten ihre Leistungen privat an; zwei sind in der Kinderklinik in Tsetserleg angestellt. Dort hat auch „Zahnärzte ohne Grenzen“ einen Stützpunkt eingerichtet. Die Nürnberger Stiftung handelt mit den Länderregierungen Verträge aus. Für die reisenden Zahnärzte gibt es offizielle Ausweise. Matthias Richter gehörte zu einer Gruppe mit einem Studenten aus Göttingen, einer Österreicherin und einem iranischen Zahnarzt aus Berlin. Dreimal im Sommer werden die mongolischen Zahnärzte für zwei Wochen von europäischen Kollegen unterstützt. Nicht immer machen sie dabei gute Erfahrungen. Manche Ärzte verstehen den Auftrag falsch. Sie kommen, um zu belehren und nicht, um zu helfen. „Da kann man verstehen, dass sie in den ersten Tagen schon aus Prinzip ,Hü' gesagt haben, wenn wir ,Hott' gesagt haben“, erzählt Richter. „Aber von Tag zu Tag wurde es immer besser.“

Als die einheimische Ärztin am dritten Tag ihren Namen preisgab, war klar: Nun steht der gemeinsamen Arbeit nichts mehr im Weg. 40 Patienten täglich waren das. Um 9 Uhr öffnete die Praxis, ab 5 Uhr standen die meisten an. Der Dolmetscher vermittelte. Die Reihenfolge, die er festgelegt hatte, war spätestens hinfällig, wenn ein Bekannter der mongolischen Ärzte um Behandlung bat.

Die zahnärztliche Versorgung in der Mongolei sei gegenwärtig katastrophal, erzählt Matthias Richter. Die Krankenhäuser wurden zu Sowjetzeiten gebaut; damals kümmerten sich die Russen um genügend Ärzte und deren Ausbildung. Der Wechsel ins marktwirtschaftliche Wirtschaftssystem nach 1990 war für die Mongolen im Gesundheitswesen kein Gewinn. Dem Krankenhaus in Tsetserleg hat der Verein „Zahnärzte ohne Grenzen“ zwar zwei Zahnarztstühle chinesischer Bauart gestiftet. „Aber die Ärzte müssen erst lernen, damit umzugehen. Bis zum vorigen Jahr haben sie dort nur Zähne gezogen, vielerorts gibt es auch keine Bohrer“, sagt Richter.

Jedes Kind hat von dem Neuruppiner eines der Päckchen mit Informationsblatt, Zahnbürste und -pasta bekommen, die die Stiftung vorbereitet hatte. Zähneputzen ist kaum verbreitet, da die traditionelle Ernährung aus Fleisch und gesalzenem Milchtee bestand und kaum Kariesgefahr barg. „Aber das ist vorbei“, sagt Richter. In den Läden kann man jetzt alles kaufen – selbstverständlich auch die süßen amerikanischen Limonaden. Das sieht man den Zähnen an. „Es ist erschreckend. Bei vielen Mongolen sitzen die Zähne inzwischen so schief, dass das ganze Gleichgewicht im Mund auseinanderbricht.“ Matthias Richter wollte vor allem erreichen, dass die mongolischen Ärzte wissen, wie sie zahnmedizinische Probleme lösen können – auch, wenn die europäischen Kollegen wieder zu Hause sind. „Das ist die Hauptaufgabe von ,Zahnärzte ohne Grenzen': Menschenkraft statt Geldkraft.“

Die Verständigung lief über Hände, Füße, Englisch, Russisch – und den Dolmetscher, der elf Jahre in Japan gelebt hat und es vorzog, das Mongolische übers Japanische ins Englische zu übersetzen. Das deutsch-mongolische Team spielte sich von Tag zu Tag mehr ein. Einige gemeinsame Behandlungen liefen schon ohne Worte – „wie im Blindflug“, wie Matthias Richter immer sagt, wenn er von seiner Arbeit in Neuruppin erzählt.

Dass er sich für die Mongolei als Einsatzort entschied, findet er konsequent. „Wer, wenn nicht wir ehemaligen DDR-Bürger. Wir können Kyrillisch lesen, uns ist die slawische Mentalität nicht ganz fremd und wir haben gelernt, uns mit einfachsten Mitteln zu behelfen.“ Jeden Morgen vor Dienstbeginn machte er einen Spaziergang durch den Park. Am letzten Tag fiel es ihm besonders schwer. Er war wehmütig und gleichzeitig unendlich stolz: „Das ich etwas kann, das auf der ganzen Welt gebraucht wird – das ist mir nie so bewusst geworden wie in der Mongolei.“

Dafür gab er seinen Sommerurlaub her. Während er arbeitete, schaute sich seine Frau, die Kinderärztin Anke Richter, in der Kinderklinik um. In der freien Zeit lernten sie Land und Leute kennen, die unwirkliche Landschaft mit ihren Weiten und Wildblumenwiesen, besuchten Einheimische in ihren traditionellen Nomadenzelten, den Jurten, erlebten das große Pferderennen am Nationalfeiertag – und speisten mit dem Ministerpräsidenten von Archangai. Ihm sagte der Neuruppiner Zahnarzt: „Wenn man hier morgens zur Arbeit geht, bekommt man einen ganz anderen Einblick. Man wird Teil des Landes.“ Die Augen des Politikers müssen geleuchtet haben, wie Richters Augen jetzt, wenn er von der Mongolei erzählt.

Am Sonntag sind er und seine Frau wieder in Berlin-Tegel gelandet. Mit 1600 Bildern – und der Sehnsucht nach dem nächsten Mal. (Von Juliane Felsch)

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