Als Student kann man heute nach Shanghai und London, nach Caracas und Kapstadt kommen, denn fast alle Studiengänge ermöglichen ein Auslandssemester. Zunehmend gilt die Zeit in der Ferne sogar als Standard für die Vita. Und wir Zahnmediziner? Die Approbationsordnung der Mediziner schreibt eine viermonatige Famulatur vor. Wir müssen nicht, aber viele wollen es. Doch wie organisiert man das? Wo kann man hingehen? Und vor allem: Was bringt uns Zahnmedizin-Studenten eine Famulatur?
Nach Abschluss des 8. Semesters sprach mich mein Kommilitone Florian an, ob ich nicht Lust hätte, mit ihm und einem Zahnarzt nach Trakehnen zu fahren. Trakehnen? Wenn man nicht gerade enthusiastischer Pferdeliebhaber ist oder sich gut in der deutschen Geschichte des 19./20. Jahrhunderts auskennt, dann sagt einem das vielleicht nichts. Ich musste also im Internet suchen, und siehe da: Trakehnen (heute Jasnaja Poljana – helle Lichtung) liegt in Ostpreußen und gehört heute zur russischen Exklave Königsberg (Kaliningrad). Früher war dieses Dörfchen im ganzen Reich bekannt, denn hier wurden die berühmten Trakehner Pferde gezüchtet.
Die Reise
Zunächst brauchten wir ein Visum für Russland. Mit den Beamten in der russischen Botschaft war nicht gut Kirschen essen und auch mein rudimentärer Russischwortschatz war dort nicht hilfreich. Zum Glück lief der Rest ziemlich unkompliziert, da Dr. Ingo Warwas (68),
Abb. 2: Zwei Charité-Studenten bei ihrer Gastfamilie: Daniel (2. v. l.) und Florian (Mitte sitzend).
Abb. 2: Zwei Charité-Studenten bei ihrer Gastfamilie: Daniel (2. v. l.) und Florian (Mitte sitzend).
der uns betreuende Zahnarzt vom Verein „Humanitäre Hilfe Trakehnen e.V.“, die Ruhe in Person war. Er hat sich das Ziel gesetzt, die Bevölkerung in der Umgebung von Trakehnen zahnmedizinisch zu versorgen. Dazu gründete er 1991 den Verein und stellt seitdem sein Wissen, Können und Material zur Verfügung. Seit Jahren nimmt er auch Studenten mit, die dort unter seiner Aufsicht arbeiten.
Die Fahrt nach Russland starteten wir im September. Wir durchquerten Polen in einem etwa 20 Jahre alten, rostigen Mercedes auf der ehemaligen Reichsstraße Nr. 1, dieser mitunter breit ausgebauten, oft auch noch romantischen Allee, von der aus es ziemlich viele Zeugnisse aus der deutschen Vergangenheit zu sehen gab. In einer wunderschönen Landschaft tauchten immer wieder Kirchen und Rathäuser im Stil der Backsteingotik auf. Wir wurden an Gedichte aus der Romantik erinnert. Damit war es dann allerdings an der russischen Grenze vorbei. Die Beamten dort filzten uns gründlich, und leider werden dabei auch die Sachspenden „dezimiert“, die Dr. Warwas für den Verein von vielen Kollegen immer wieder mitbekommt. Man konnte hier schon einen kleinen Vorgeschmack bekommen, wie die Uhren in Russland ticken und wie „exotisch“ doch dieses Land ist.
Das Land
Das Dorf Trakehnen erreichten wir am Abend. Erst am nächsten Tag entdeckten wir, wie klein unser Arbeitsort für die nächsten knapp zwei Wochen war: ein paar kleine Nebenstraßen, die alle zur holprigen Hauptstraße führten, die Ruine eines Kornspeichers, der Friedhof für die Gefallenen des „großen vaterländischen Krieges“. Kurz vor dem Ende der Siedlung stand dann das Haus, das Dr. Warwas hatte bauen lassen und in dem nun die deutschstämmige Familie Jansen wohnt.
Mit echt russischer Gastfreundschaft nahm uns die Familie auf und kümmerte sich während unseres Aufenthaltes rührend um uns. Wir wurden bekocht mit allem, was die traditionelle russische Küche so hergibt: Pelmeni, Soljanka und Piroggen, warme Kuhmilch und frisches Brot und die eine oder andere honigsüße Leckerei.
Damit hatten wir auch einen der Gründe kennengelernt, warum wir von früh bis spät behandeln mussten: Die Ernährung der Einheimischen wird von Sacchar (Zucker) dominiert. An ein Recallsystem mit einer kontinuierlichen zahnärztlichen Überwachung ist in einem Staat, in dem es bisher nur die vage Vorstellung einer staatlichen Krankenversicherung gibt, ohnehin nicht zu denken. Dementsprechend war unser Betätigungsfeld sehr weit.
Was bringt einem Zahnmediziner eine Famulatur?
Florian und ich hatten natürlich im Rahmen des ersten klinischen Studienjahres (7./8. Semester) selbst schon ein paar Füllungen gelegt und Wurzelkanalbehandlungen durchgeführt, aber was wir in Trakehnen erlebten, überstieg unser Vorstellungsvermögen. Gleich unsere erste Patientin, eine etwa 20 Jahre alte und sehr nett anzusehende Russin, nahm eine
einfache Teilprothese aus dem Mund. Da staunten wir Famulanten nicht schlecht.
An der Uni mussten wir auf Patienten mit bestimmten Füllungsarten mitunter lange warten, hier gab es jede Kavitätenklasse in Hülle und Fülle. Kinder, Jugendliche, junge Mütter, Soldaten, Babuschkas, alle kamen zu der kleinen Dorfpraxis. Vor dem Behandlungszimmer mit drei älteren Einheiten versammelten sich manchmal Dutzende Wartende. Bis zu elf Stunden behandelten wir und konnten trotzdem nicht alle drannehmen. Unser Ansprechpartner für alle zahnmedizinischen Fragen war Dr. Warwas. Er überließ uns vertrauensvoll die Diagnostik, war aber stets zur Stelle, wenn wir einmal nicht weiterwussten. Und wenn es gar nicht mehr ging, half er gelassen mit seiner immensen praktischen Erfahrung.
In der Praxis hatten wir so viel zu tun, dass kaum Zeit blieb, die weitere Umgebung zu erkunden. Nur für eine Reise in das malerische Rauschen (Swetlogorsk), einen Küstenort in der Nähe von Königsberg, reichte es. Hier verkehrte schon Thomas Mann und schrieb seinen „Mario und der Zauberer“. In der näheren Umgebung Trakehnens besuchten wir außerdem das kleine Städtchen Gumbinnen (Gussew), hörten uns dort einen deutsch-russischen Gottesdienst an und waren zum großen Erntedankfest der Mennonitengemeinde eingeladen. Auch der Bäcker Jeroschenko, dem Dr. Warwas Anfang der 90er Jahre geholfen hatte, seinen Betrieb aufzubauen, aus dem mittlerweile eine der größten Bäckereien der Region geworden ist, lud Dr. Warwas und uns zu einem herzlichen Fest ein.
Mir hat die Zeit als Famulus viel Sicherheit gegeben. In den knapp zwei Wochen haben wir dreimal so viele Füllungen legen können wie im Kons-Kurs und durften viele tief zerstörte Zähne extrahieren. So viel Praxis in so kurzer Zeit kann keine deutsche Universität bieten. Außerdem ermöglichte die Famulatur uns, einen klitzekleinen Zipfel des riesigen Russland kennenzulernen. Und wir beide waren Teil eines besonderen Projektes, welches viel für die Verständigung zwischen Deutschland und Russland „von unten“ erreichen kann!