Zahnmedizinisches Abenteuer in Trakehnen

#1 von carlos , 07.01.2012 21:41

Als Student kann man heute nach Shanghai und London, nach Caracas und Kapstadt kommen, denn fast alle Studiengänge ermöglichen ein Auslandssemester. Zunehmend gilt die Zeit in der Ferne sogar als Standard für die Vita. Und wir Zahnmediziner? Die Approbationsordnung der Mediziner schreibt eine viermonatige Famulatur vor. Wir müssen nicht, aber viele wollen es. Doch wie organisiert man das? Wo kann man hingehen? Und vor allem: Was bringt uns Zahnmedizin-Studenten eine Famulatur?
Nach Abschluss des 8. Semesters sprach mich mein Kommilitone Florian an, ob ich nicht Lust hätte, mit ihm und einem Zahnarzt nach Trakehnen zu fahren. Trakehnen? Wenn man nicht gerade enthusiastischer Pferdeliebhaber ist oder sich gut in der deutschen Geschichte des 19./20. Jahrhunderts auskennt, dann sagt einem das vielleicht nichts. Ich musste also im Internet suchen, und siehe da: Trakehnen (heute Jasnaja Poljana – helle Lichtung) liegt in Ostpreußen und gehört heute zur russischen Exklave Königsberg (Kaliningrad). Früher war dieses Dörfchen im ganzen Reich bekannt, denn hier wurden die berühmten Trakehner Pferde gezüchtet.
Die Reise


Zunächst brauchten wir ein Visum für Russland. Mit den Beamten in der russischen Botschaft war nicht gut Kirschen essen und auch mein rudimentärer Russischwortschatz war dort nicht hilfreich. Zum Glück lief der Rest ziemlich unkompliziert, da Dr. Ingo Warwas (68),
Abb. 2: Zwei Charité-Studenten bei ihrer Gastfamilie: Daniel (2. v. l.) und Florian (Mitte sitzend).
Abb. 2: Zwei Charité-Studenten bei ihrer Gastfamilie: Daniel (2. v. l.) und Florian (Mitte sitzend).
der uns betreuende Zahnarzt vom Verein „Humanitäre Hilfe Trakehnen e.V.“, die Ruhe in Person war. Er hat sich das Ziel gesetzt, die Bevölkerung in der Umgebung von Trakehnen zahnmedizinisch zu versorgen. Dazu gründete er 1991 den Verein und stellt seitdem sein Wissen, Können und Material zur Verfügung. Seit Jahren nimmt er auch Studenten mit, die dort unter seiner Aufsicht arbeiten.

Die Fahrt nach Russland starteten wir im September. Wir durchquerten Polen in einem etwa 20 Jahre alten, rostigen Mercedes auf der ehemaligen Reichsstraße Nr. 1, dieser mitunter breit ausgebauten, oft auch noch romantischen Allee, von der aus es ziemlich viele Zeugnisse aus der deutschen Vergangenheit zu sehen gab. In einer wunderschönen Landschaft tauchten immer wieder Kirchen und Rathäuser im Stil der Backsteingotik auf. Wir wurden an Gedichte aus der Romantik erinnert. Damit war es dann allerdings an der russischen Grenze vorbei. Die Beamten dort filzten uns gründlich, und leider werden dabei auch die Sachspenden „dezimiert“, die Dr. Warwas für den Verein von vielen Kollegen immer wieder mitbekommt. Man konnte hier schon einen kleinen Vorgeschmack bekommen, wie die Uhren in Russland ticken und wie „exotisch“ doch dieses Land ist.
Das Land


Das Dorf Trakehnen erreichten wir am Abend. Erst am nächsten Tag entdeckten wir, wie klein unser Arbeitsort für die nächsten knapp zwei Wochen war: ein paar kleine Nebenstraßen, die alle zur holprigen Hauptstraße führten, die Ruine eines Kornspeichers, der Friedhof für die Gefallenen des „großen vaterländischen Krieges“. Kurz vor dem Ende der Siedlung stand dann das Haus, das Dr. Warwas hatte bauen lassen und in dem nun die deutschstämmige Familie Jansen wohnt.

Mit echt russischer Gastfreundschaft nahm uns die Familie auf und kümmerte sich während unseres Aufenthaltes rührend um uns. Wir wurden bekocht mit allem, was die traditionelle russische Küche so hergibt: Pelmeni, Soljanka und Piroggen, warme Kuhmilch und frisches Brot und die eine oder andere honigsüße Leckerei.

Damit hatten wir auch einen der Gründe kennengelernt, warum wir von früh bis spät behandeln mussten: Die Ernährung der Einheimischen wird von Sacchar (Zucker) dominiert. An ein Recallsystem mit einer kontinuierlichen zahnärztlichen Überwachung ist in einem Staat, in dem es bisher nur die vage Vorstellung einer staatlichen Krankenversicherung gibt, ohnehin nicht zu denken. Dementsprechend war unser Betätigungsfeld sehr weit.
Was bringt einem Zahnmediziner eine Famulatur?


Florian und ich hatten natürlich im Rahmen des ersten klinischen Studienjahres (7./8. Semester) selbst schon ein paar Füllungen gelegt und Wurzelkanalbehandlungen durchgeführt, aber was wir in Trakehnen erlebten, überstieg unser Vorstellungsvermögen. Gleich unsere erste Patientin, eine etwa 20 Jahre alte und sehr nett anzusehende Russin, nahm eine
einfache Teilprothese aus dem Mund. Da staunten wir Famulanten nicht schlecht.

An der Uni mussten wir auf Patienten mit bestimmten Füllungsarten mitunter lange warten, hier gab es jede Kavitätenklasse in Hülle und Fülle. Kinder, Jugendliche, junge Mütter, Soldaten, Babuschkas, alle kamen zu der kleinen Dorfpraxis. Vor dem Behandlungszimmer mit drei älteren Einheiten versammelten sich manchmal Dutzende Wartende. Bis zu elf Stunden behandelten wir und konnten trotzdem nicht alle drannehmen. Unser Ansprechpartner für alle zahnmedizinischen Fragen war Dr. Warwas. Er überließ uns vertrauensvoll die Diagnostik, war aber stets zur Stelle, wenn wir einmal nicht weiterwussten. Und wenn es gar nicht mehr ging, half er gelassen mit seiner immensen praktischen Erfahrung.

In der Praxis hatten wir so viel zu tun, dass kaum Zeit blieb, die weitere Umgebung zu erkunden. Nur für eine Reise in das malerische Rauschen (Swetlogorsk), einen Küstenort in der Nähe von Königsberg, reichte es. Hier verkehrte schon Thomas Mann und schrieb seinen „Mario und der Zauberer“. In der näheren Umgebung Trakehnens besuchten wir außerdem das kleine Städtchen Gumbinnen (Gussew), hörten uns dort einen deutsch-russischen Gottesdienst an und waren zum großen Erntedankfest der Mennonitengemeinde eingeladen. Auch der Bäcker Jeroschenko, dem Dr. Warwas Anfang der 90er Jahre geholfen hatte, seinen Betrieb aufzubauen, aus dem mittlerweile eine der größten Bäckereien der Region geworden ist, lud Dr. Warwas und uns zu einem herzlichen Fest ein.

Mir hat die Zeit als Famulus viel Sicherheit gegeben. In den knapp zwei Wochen haben wir dreimal so viele Füllungen legen können wie im Kons-Kurs und durften viele tief zerstörte Zähne extrahieren. So viel Praxis in so kurzer Zeit kann keine deutsche Universität bieten. Außerdem ermöglichte die Famulatur uns, einen klitzekleinen Zipfel des riesigen Russland kennenzulernen. Und wir beide waren Teil eines besonderen Projektes, welches viel für die Verständigung zwischen Deutschland und Russland „von unten“ erreichen kann!

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RE: Zahnmedizinisches Abenteuer in Trakehnen

#2 von carlos , 07.01.2012 21:43

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RE: Zahnmedizinisches Abenteuer in Trakehnen

#3 von Richard ( Gast ) , 09.01.2018 14:49

Hallo Carlos,

Ich bin Zahnmedizinstudent und interessiere mich auch für eine Famulatur in Trakehnen bzw. generell in Russland. Hätten Sie Kontaktdaten oder Ansprechpartner für mich?

Vielen Dank und mit besten Grüßen,

Richard


edit: schau mal uneter: Dr. Ingo Warwas in Munderkingen


Richard
zuletzt bearbeitet 09.01.2018 22:45 | Top

RE: Zahnmedizinisches Abenteuer in Trakehnen

#4 von carlos , 09.01.2018 22:42

AlsZahnmedizinermach
tmansich
oftGedanken,ob
Wurzelfüllungen
homogenwerdenoderobbeiKro-
nenderRanddichtist,aberselten
schautmanüberden
Tellerrand.Die
Famulatur in
Trakehnen war eine
gute Kombination aus praktischer
Arbeit und der Möglichkeit einen
kleinen Teil des großen Russland
kennenzulernen.
Trakehnen (heute
Jasnaja Poljana
–helle Lichtung)
liegt im ehemaligen Ostpreußen,
heute zur russischen Exklave Ob-
lastKaliningrad
,wiedasehemalige
Königsber gheute heißt, gehörend.
FrüherhattederOrtBedeutungals
das berühmteste und bedeutendste
GestütdesDeutschenReichesund
durchdiePferderasse
Trakehnerist
das Dorf mit etwa 1.500 Einwoh-
nernbeiPferdeliebhabernbisheute
einBegriff.
Schon auf der Reise Richtung
OstenquerdurchPolen]elmirauf,
dass die Reiseroute eine wunder-
schöneLandschaftundvieleZeug-
Zahnmediziner behandeln in russischer Exklave Menschen kostenlos
Famulatur in Ostpreußens Perle
Trakehnen
Knapp zwei
Wochen als Gehilfen eines Zahnarztes in der russischen
Exklave Oblast Kaliningrad zu arbeiten und dabei kostenfrei zahn-
medizinische Hilfe zu leisten
–das stand auf dem Programm zweier
junger Zahnmediziner
.Die Studenten besuchten das Dor
fTrakehnen,
das für seine Pferdezucht berühmt ist, und halfen dem Munderkinger
Zahnarzt Dr
.Ingo Warwas bei der kostenlosen
Versorgung der dort
lebenden Menschen. Zweimal im Jahr verbringt er je zwei
Wochen in
einer 1993 von ihm eingerichteten Praxis in
Trakehnen.
ZBW 3/2010
nisse der deutschen
Vergangenheit
bietet. Neben den Anstrengungen
derFahrtwarvorallemderGrenz-
übertritt nach Russland abenteu-
erlich.DocheswareinguterEin-
stieg, um sich darauf einzustellen,
dass in Russlan
ddie Uhren noch
etwasandersticken.
Bäuerliches Umfeld.
Trakeh-
nen,dasheuteeinkleinesDörfchen
miteinerHauptstraß
eundeinpaar
kleinen Nebenstraßen ist, erreich-
ten wir am späten Abend
,sodass
wir noch gar nicht wussten, wie
bäuerlich und provinziell unser
Arbeitsplat zfür die nächsten zehn
Tageseinwürde.
Wir, das waren wir zwei Famu-
lanten–FlorianRiegerundDaniel
Kuzman–und Dr .Ingo Warwas,
unser Mentor in Russland. Er ist
Gründer des
Vereins „Humani-
täre Hilfe Trakehnen“ mit Sitz in
Munderkingen, der seit 1991 zum
Ziel hat für die Bevölkerung, die
sich teils keine zahnmedizinische
Grundversorgungleistenkann,kos-
tenlosdieselbebereitzustellen
.Dr.
WarwaswarunserAnsprechpartner
in alle nzahnmedizinischen Frage-
stellungen. Vertrauensvoll ließ er
uns die Möglichkeit, Diagnosen
selbst zu stellen und die entspre-
chendeTherapieanzuwenden,war
aberauchstetszurStelle,wennwir
mal wieder nicht weiter wussten.
Junge Menschen mit
Karies.
Natürlichhatten wir als Kliniker
nachAbschlussdesachtenSemes-
tersauchselbstschoneinpaarFül-
lungengelegt und Wurzelkanalbe-
handlungengemacht,aberwaswir
dortgleichindenersten
Tagensa-
henüberstiegsogarunserzahnme-
dizinisches Vorstellungsvermögen.
Gleich unsere erste Patientin, eine
etwa20JahrejungeRussin,dieäu-
ßerlichnettanzusehenwar
,öffnete
ihren Mund und nahm ihre Ober-
kiefer-Teilprothese heraus.
Viele,
vor allem junge, Patienten hatten
mehrere teils tief zerstörte kariöse
Zähne.WirhattenalleFormender
Kavitätenklassen „bis zum Umfal-
len“.
Gelebthabenwirbeiderdeutsch-
stämmigen Familie Jansen, die in
dem Haus wohnte, in dem auch
diedreiBehandlungsstühlewaren.
Mit russischer Gastfreundschaft
wurden wir in
die siebenköp]ge
Familie aufgenommen und wir
konntensoaucheinenEinblickin
das Alltagsleben gewinnen. Nach
einem arbeitsreiche
nTag mit bis
zu elf Stunden Arbeitszeit wurde
unszuMittagundAbendbrotjede
möglicheSpezialitätaufgetischt.
Pelmeni, Piroggen und Soljanka,
warme Milch und frisches Brot
machtenunszuFreundenderrus-
sischenKüche.
Wenig Freizeit.
Die Vorausset-
zungen für eine Famulatur in
Tra-
kehnensindnebendemErhalteines
Visums,wasgarnichtsoleichtwar,
eigentlichnurderMut,eineoftver-
klärte, aber sehr angenehme euro-
päischeKulturkennenzulernenund
derWille,imRahmenhumanitärer
Hilfe,hartezahnärztlicheArbeitzu
leisten.
Leider hatten wir nicht genug
Zeit,umaußerhalbderPraxisaus-
reichendErkundungenanzustellen.
Aber immerhin reichte es für eine
Reise ans Meer nach Rauschen,
woThomasMann„Marioundder
Zauberer“ geschrieben hat.
Von
Königsbergkonntenwirleiderauch
vielzuwenigsehen,aberwirhatten
einfach zu viele Patienten, die wir
nichtimStichlassenwollten.
AneinemAbendwarenwirbeim
3/2010 ZBW
BäckerJeroschenkoeingeladen,der
inden90erJahrendurchdieHilfe
von Dr .Ingo Warwas eineAusbil-
dunginHamelnabsolvierthat,und
mit etwas Starthilfe in Form von
alten Backmaschine
naus Deutsch-
landnuneinengroßen
TeilderEx-
klave Königsber
gmit duftendem
Brotbeliefert.Außerdembesuchten
wir in Gumbinne
neinen deutsch-
russischenGottesdienstundfeierten
Erntedank mit der Mennonitenge-
meindein Trakehnen.
DiePraxis.
FamulantDaniel
Kuzmanbehandel tine inemde rdreiBehandlungsräume
eine Patientin.Zude
mgabesei nkleine sLabor .Umd ieEinrichtung
1994 insLandzu
bekommen,musstenvieleHinderniss
eumgangen werden.
Rückblickend kann ich sagen,
dass wir während der Zeit in
Tra-
kehnen mehr als doppelt so viele
Zähne gezogen haben, wie in den
dreiWocheninderChirurgie.Und
wirmachtenetwadreiMalsoviele
FüllungenwieindenzweiSemes-
tern Kons. Und außerdem waren
wir Teil eines außergewöhnlichen
Projekts,dasvielfürdieVölkerver-
ständigungzwischen Deutschland
undRusslan derreicht.
DanielKuzman

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RE: Zahnmedizinisches Abenteuer in Trakehnen

#5 von carlos , 09.01.2018 22:43

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RE: Zahnmedizinisches Abenteuer in Trakehnen

#6 von Richard ( Gast ) , 10.01.2018 14:46

Alles klar, danke Dir!

Richard

   


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