Gummibärchen und Zahnprothesen

#1 von milliy , 18.12.2011 13:55

Claudia Sigel schaut in doppelt so viele Münder wie normalerweise. Zu Hause in ihrer Reutlinger Kinderzahnarztpraxis kommen rund hundert Patienten am Tag. Hier im sambischen Busch sind es um die zweihundert Kinder, die sie mit ihren Kollegen an diesem Tag untersucht, obwohl jeder Behandlungsschritt länger als normalerweise dauert.

Sigel trägt eine Kopfleuchte auf ihrem dunklen zusammengebundenen Haar, mit der sie in die Mundhöhle leuchtet, weil es keinen Strom für elektrisches Licht gibt. Auf dem Boden stehen Kanister mit destilliertem Wasser, ein Spucktopf, ein Gasbrenner und ein Sterilisationstopf für die Instrumente.

Fließendes Wasser gibt es nicht. Das Klassenzimmer der Schule von Matuya wurde für einen Tag umfunktioniert in eine Zahnarztpraxis.


»Die Kinder waren extrem geduldig, viel geduldiger als in meiner Reutlinger Praxis«


Die Kinder warten in ihrer Schuluniform geordnet in der Schlange vor dem Behandlungsstuhl, andere schauen neugierig von draußen zum Fenster hinein. Manche sind zwanzig Kilometer zu Fuß hergelaufen, bei 36 Grad im Schatten. Das ist im Busch nichts Ungewöhnliches. Ein Zahnarzt hingegen schon, nur einmal im Jahr kommt einer vorbei. Und er bringt auch noch Geschenke mit. Das spricht sich schnell herum. Immer mehr Kinder stellen sich in die Schlange und schielen in die Kiste mit Gummibärchen, Zahnbürsten und Luftballons.

Sigel prüft die Gebisse und erklärt den Kindern auf Englisch, wie sie ihre Zähne putzen müssen. Manchmal muss einer der Assistenten übersetzen in Tonga - die Sprache, die hier am meisten verbreitet ist. Das Geräusch des Bohrers hört man nicht allzu oft. »Die Kinder haben kaum Süßigkeiten, deswegen gibt es selten Karies«, sagt Sigel. Die Kleinen, die schon dran waren, spielen draußen im Busch mit ihrem neuen Ball, auf dem ist der Name einer deutschen Supermarktkette mit Reutlinger Filiale zu lesen. Die Firma hat einige Geschenke gestiftet.

Es war im Oktober, als Claudia Sigel und ihr Kollege Heiner Geigle aus Neckartenzlingen für zwei Wochen ins südliche Afrika nach Sambia aufgebrochen sind, um in einem Hilfsprojekt der Organisation »Zahnärzte ohne Grenzen« zu arbeiten - in einem Land, das zu den zwanzig ärmsten der Welt zählt. Siavonga hieß das Ziel der Reise, eine Stadt mit 70 000 Einwohnern am Kariba-Stausee im Süden des Landes. Im Koffer hatten die beiden Schwaben jede Menge Zangen und Pinzetten sowie Material für Kunststofffüllungen und Prothesen.


»Ohne das Engagement von Einzelnen würde so ein Projekt nicht funktionieren«


Sigel und Geigle bezogen Quartier bei dem Münchner Hermann Striedel, der seit vierzig Jahren in Sambia lebt, eine Pension betreibt und im Kreiskrankenhaus Siavonga eine Zahnstation mit aufgebaut hat. »Ohne das Engagement von Einzelnen wie Herrmann würde so ein Projekt nicht funktionieren«, sagt Geigle. »Zahnärzte ohne Grenzen« besorgt nur die Arbeitserlaubnis und meldet die Helfer bei den Behörden an, den Flug zahlt jeder selbst. Sigel und Geigle wurden bereits von fünf zahnärztlichen Assistenten im Krankenhaus in Siavonga erwartet. Sie packten ihr Mini-Zahnlabor aus und zeigten den sambischen Kollegen, wie man Brücken und Füllungen macht.

In der folgenden Woche fuhr das Team gemeinsam Tag für Tag in die Provinz, um Kinder in Waisenhäusern und - wie in Matuya - in Schulen zu behandeln. Hygienisch sei das manchmal grenzwertig gewesen. Einmal habe der Gasbrenner nicht mehr funktioniert, mit dem die Instrumente sterilisiert wurden, berichtet Geigle. »Wir mussten aufhören an dem Tag.« Zu groß sei die Ansteckungsgefahr zum Beispiel durch hohe HIV-Infektionsraten. Die zahnärztliche Versorgung ist in Sambia mangelhaft, besonders auf den Dörfern. Wenn ein Mensch einen entzündeten Zahn hat, kommt es nicht selten vor, dass er daran stirbt, weil ihn niemand behandelt.

Die Ausbildung der zahnärztlichen Assistenten dauert drei Jahre, ein Universitätsstudium Zahnmedizin gibt es in Sambia nicht. Vor allem aber fehlt es an Material für Prothesen. Ein Zahnarzt ist hier oft noch einer, der schmerzhaft Zähne zieht, weil er keine Möglichkeit hat, Löcher mit einer Füllung zu reparieren. Das will Claudia Sigel ändern. »Es ist gut, wenn man den Kollegen eine Hilfestellung geben kann. Es soll ja auch funktionieren, wenn wir wieder weg sind«, sagt sie. Nachhaltigkeit war für Sigel ein wichtiges Argument nach Afrika zu fahren. Sie kehrte begeistert zurück.

Angestiftet hat sie Heiner Geigle. Für ihn war es schon die zweite Reise nach Siavonga. »Die Füllung kenn ich doch«, schoss ihm manchmal durch den Kopf als er in die ein oder andere Mundhöhle blickte.

Häufig traf er Patienten aus dem letzten Jahr. Die Gesichter der Sambier zu unterscheiden fiel ihm schwer, aber an den Zähnen erkennt er sie. »Afrika - das ist einfach das komplett Andere«, sagt Geigle. Als Weißer in der Minderheit zu sein, das sei für ihn eine wichtige Erfahrung gewesen. »Es hat mich überrascht, wie zivilisiert es in Sambia ist«, gibt Sigel zu. Dankbar und freundlich seien die Leute gewesen. »Und die Kinder waren extrem geduldig, viel geduldiger als in meiner Reutlinger Praxis.«

In zwei Dörfern im Gebiet von Siavonga werden jetzt neue Krankenstationen mit Zahnarztpraxen geplant. Claudia Sigel will nächstes Jahr im Herbst wieder nach Sambia fahren, zusammen mit ihrem Mann. Er ist Oralchirurg. (GEA)

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"Wo nie zuvor ein Zahnarzt war" Dr. Sabine Kopecz
project teeth relief: dental aid for rural Zambia.

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