Ein Interview über zahnmedizinische Hilfe für Japan

#1 von carlos , 30.09.2011 22:49

In Japan sind seit der Tsunami- und Erdbebenkatastrophe im Frühjahr 2011 noch immer zahlreiche Hilfskräfte vor Ort. DT Online sprach mit der Direktorin für humanitäre Soforthilfe der Organisation AmeriCares, Ella Gudwin, über den Stand der Mundgesundheit nach der Katastrophe und die Wichtigkeit von Hilfsorganisationen beim Wiederaufbau des Landes.

Frau Gudwin, aus dem Katastrophengebiet in Japan hörte man zuletzt nur wenig. Wie sieht im Augenblick die Situation vor Ort aus?

Ella Gudwin: Ich habe die Miyagi Prefecture zum letzten Mal im Juni besucht und zu dieser Zeit gab es schon recht unterschiedliche Reaktionen zum Fortgang der Hilfsmaßnahmen. Jetzt wo das Land in die Wiederaufbauphase eintritt, sieht man sich bereits mit neuen Problemen konfrontiert, zum Beispiel wo man neue Gemeinden bauen kann und wie diese angelegt werden sollen. 



Eine gute Nachricht ist, dass die Menschen aus dem Katastrophengebiet endlich von den Notunterkünften in provisorische Wohnungen umgesiedelt werden, was jedoch speziell den Älteren schwer fällt, da dies oft bedeutet, sich von ihren Gemeinden, Verwandten und Freunden zu trennen.

Welche Auswirkungen hatte die Katastrophe auf die medizinische Versorgung?
Die Grundversorgung hat am meisten gelitten. Um Ihnen eine ungefähre Vorstellung von den Ausmaßen der Katastrophe zu geben, brauchen wir uns nur die Küstenstadt Minami Sanriku als Beispiel zu nehmen. Dort wurden alle sechs vorhandenen Zahnkliniken von dem Tsunami quasi dem Erdboden gleichgemacht. Derzeit gibt es in der Stadt nur zwei provisorische Einrichtungen, um ca. 10,000 Menschen zu behandeln. 



Ihre Organisation hilft beim Aufbau zahnmedizinischer Dienste in Minami Sanriku. Können Sie uns mehr darüber sagen?
In ganz Japan unterstützen wir den Wiederaufbau medizinischer Infrastruktur, wie zum Beispiel mobilen Gesundheitsdiensten für Menschen, die in provisorischen Unterkünften leben. Hinsichtlich zahnmedizinischer Versorgung bauen wir derzeit die von Ihnen bereits angesprochenen Zahnkliniken in Minami Sanriku auf. Dies ist außerdem das erste größere Strukturprojekt, dessen wir uns während der Wiederaufbauphase annehmen.



Außer uns sind an dem Projekt noch die japanische Regierung sowie die Zahnärztekammer von Miyaki beteiligt. Während wir für jede Klinik jeweils US$200,000 bereitstellen, liegt die Finanzierung der Ausstattung in den Händen der japanischen Behörden. Zusammen mit dem Stadtrat von Minami Sanriku, der für die langfristige Wiederaufbauplanung verantwortlich ist, haben wir zudem den Standort der Kliniken bestimmt. Das Personal wird von der regionalen Zahnärztekammer gestellt.


Wenn man uns mit anderen Organisation vergleicht, die ebenfalls in der Region tätig sind, sind wir ein eher kleines Unternehmen. Dafür versuchen wir aber, die benötigte finanzielle Unterstützung zielgerichtet und vor allem frühzeitig bereitzustellen.



Derzeit sind uns keine weiteren Projekte in der Region bekannt, die sich mit dem Aufbau zahnmedizinischer Versorgungsdienste beschäftigen. Insofern besetzen wir eine dringend benötigte Lücke in der Versorgung der Menschen vor Ort.





Wie wichtig ist Mundgesundheit überhaupt für die Überlebenden?

Nach Naturkatastrophen wie dieser steht die Mundgesundheit für viele Überlebende erstmal hinten an und leidet natürlich mit der Zeit. Das Thema muss jedoch ernstgenommen werden, vor allem wenn man sich die demographische Zusammensetzung der von uns betreuten Städte und Gebiete betrachtet, welche zum Großteil aus älteren Menschen besteht, die über Zahnersatz verfügen. Darüber hinaus stand für einen Zeitraum von sechs Monate oft kein frisches Trinkwasser zur Verfügung, was sich negativ auf alltägliche Gewohnheiten wie z.B. das Zähneputzen ausgewirkt hat.
 




Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit den japanischen Behörden?
Leider hat Japan das von den Vereinten Nationen nach der Tsunami Katastrophe im Jahr 2004 entwickelte Cluster-System nicht eingeführt. Dieser Ansatz soll verschiedene Hilfsorganisationen, die im selben Sektor wie Gesundheit oder der Essensversorgung tätig sind, zusammenzubringen und so die Koordinierung der Maßnahmen optimieren. Obwohl das Land über sehr gute Hilfsmechanismen auf nationaler Ebene verfügt, ist die Zusammenarbeit auf regionaler und lokaler Ebene eher ad-hoc und bei weitem nicht so effektiv, wie sie sein könnte.

Je weiter wir uns in der Aufbauphase befinden, umso mehr sehen wir uns deshalb mit Problemen konfrontiert. 


Im Gegensatz zu anderen Organisationen, die finanzielle Hilfen nur durch Vermittler bereitstellen, haben wir unser Büro aber in Sedai eröffnet, wo wir sehr nahe an den von uns betreuten Gemeinden sind und Dialog über die Bedürfnisse und vorhandenen Versorgungslücken führen können.

Über die tatsächliche Strahlenbelastung nach der Explosion des Reaktors in Fukushima gab es zum Teil sehr unterschiedliche Angaben. Beeinträchtigt diese Diskussion Ihre Arbeit?

Kaum, denn 
unsere Mitarbeiter arbeiten glücklicherweise weit außerhalb der sogenannten No-Go Zone. Allerdings haben Sie Strahlenmessgeräte und Jodtabletten als erste Vorsorgemaßnahme dabei. Trinkwasser und Lebensmittel wie Milch, Fleisch und Gemüse werden auch seitens der Behörden wöchentlich einem Strahlentest unterzogen.

Wie lange werden diese Hilfsmaßnahmen ihrer Schätzung zufolge noch benötigt?

Die beiden Kliniken werden voraussichtlich zwei Jahre operieren, sind jedoch auf einen Zeitraum von zehn Jahren ausgelegt. Sobald sie geöffnet sind, erwarten wir einen rasanten Anstieg von Patienten, da Japaner in der Regel hohen Wert auf ihre Allgemeingesundheit legen und gewohnt sind, im Durchschnitt zehnmal im Jahr einen Arzt aufzusuchen.



Beide Kliniken sind darauf ausgelegt, bis zu 20 Patienten am Tag behandeln zu können. Realistisch gesehen werden es am Anfang und je nach personeller Ausstattung aber nur 10 Patienten sein.

carlos  
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