Dental Volunteers for Israel
Arbeits-Urlaub in Jerusalems Gratis-Klinik
Sascha Devigne
16. Mai 2000 - Jerusalems Kinder haben gut lachen. Denn ihre Zahngesundheit ist in besten Händen. Seit zwei Jahrzehnten werden in der einzigen unabhängigen israelischen Zahnklinik Mädchen und Jungen kostenlos behandelt. Aufge-baut wurde die Einrichtung von einer Überlebenden des Holocaust. "Dental Volunteers for Israel" (DVI) heißt das ambitionierte Projekt, bei dem jährlich hunderte freiwillige Zahnärzte aus der ganzen Welt mitwirken. Auch eine Deutsche war vor kurzem dabei.
Die freiwilligen Zahnärzte von DVI sehen Jerusalem aus einem anderen Blickwinkel.
Morgens gegen acht Uhr stehen meist schon sechs Mütter mit ihren drei oder vier Kindern an der Tür. Die ersten Patienten des Tages warten vor Jerusalems kostenloser Zahnarztpraxis. "Children's Free Dental Clinic" steht auf dem schlichten Schild am Eingang des flachdachigen Gebäudes an der Mekor Chaim Street im Süden der Stadt. Ins Deutsche übersetzt bedeutet der Straßenname soviel wie "Quelle des Lebens".
Gegründet wurde das DVI-Projekt von Trudi Birger. Seit 1980 wird in ihrer Gratis-Klinik behandelt. Zwei Jahre zuvor war die kostenlose zahnmedizinische Versorgung aller Schulkinder vom israelischen Gesundheitsministerium eingestellt worden. Das Budget wurde gestrichen. Einen Schulzahnarzt gibt es in Israel seitdem genauso wenig wie eine zahnmedizinische Krankenversicherung. Daher sind insbesondere große Familien mit niedrigen Einkommen von schweren Zahnerkrankungen betroffen. Hohe private Behandlungskosten verhindern, dass sie sich einen Zahnarzt leisten können. Die durchschnittlichen Monatseinkommen vieler Familien liegen bei umgerechnet etwa 800 DM. Das Geld würde nicht einmal für die Behandlung eines Kindes ausreichen. "Ich hatte ja ein bisschen befürchtet, ich komme da in so eine Art Slum." Susanne Frankenberger, 27 Jahre alt, Zahnärztin in Bad Wörishofen, arbeitete im vergangenen Jahr einen Monat lang als Freiwillige in der DVI-Klinik. Ihre anfängliche Befürchtung bestätigte sich in keiner Weise: "Die Zeit dort war ganz toll."
Kinder ohne Mundhygiene
Bis zu 100 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen vier und 18 Jahren werden täglich in der Klinik behandelt. Einige von Ihnen sind zum ersten Mal in ihrem Leben beim Zahnarzt. Und sie bringen schwere Erkrankungen mit. Wie etwa der vierjährige David, der mit zwei Abzessen zur Behandlung kam oder die acht Jahre alte Chana, die in ihren 24 Zähnen ganze 15 Löcher hatte. Bei Malka, einem zwölfjährigen Mädchen, waren mehr als 50 Füllungen und Wurzelbehandlungen nötig. Die Gründe für solche Fälle liegen meist in einer unausgewogenen, stark zuckerhaltigen Ernährung und in mangelhafter oder fehlender Mundhygiene der Kinder und ihrer Eltern.
Rücken an Rücken, dicht an dicht - bei den "Dental Volunteers" wird in einer Großraum-Praxis behandelt.
Jeweils zwei bis vier Wochen lang arbeiten die freiwilligen Zahnärzte in der kostenlosen Klinik. Susanne Frankenberger war von Mitte Oktober bis Mitte November vergangenen Jahres dort. Während in Deutschland trübes, herbstliches Wetter vorherrschte, lagen die Temperaturen an ihrem Arbeitsort bei frühlingshaften 20 Grad. Um bei DVI mithelfen zu können, opferte sie ihren kompletten Jahresurlaub. "Ich hatte ja zuerst gedacht: Du arbeitest dich kaputt, du hast überhaupt keine Zeit für andere Dinge." Was für sie in Ordnung gewesen wäre, schließlich hatte sie Israel bereits zweimal als Touristin besucht. "Aber dann war ich total überrascht." Die Sprechzeiten begannen morgens gegen acht Uhr und endeten bereits am frühen Nachmittag, in der Regel nach fünf Stunden. Bei den fast sommerlichen Temperaturen war dann Urlaubsstimmung angesagt; und kleine Tripps nach Tel Aviv, Hebron, Bethlehem und ans Tote Meer.
Die Idee des "working holiday", des Arbeits-Urlaubs, hatte auch Dr. Manouch Darvish nach Jerusalem gelockt. Der Kinderzahnarzt aus Massachusetts und seine Frau Karolyn verbrachten ihre Flitterwochen beim DVI-Projekt. Zurück in den USA schrieb Darvish an Trudi Birger: "Ich bin nach Hause gefahren mit einem unglaublichen Gefühl der Zufriedenheit und des Stolzes."
Dass die DVI-Klinik eine Kinderklinik ist, wird gleich auf den ersten Blick klar. "Alles blau gestrichen", erzählt Susanne Frankenberger. "Und viele Bilder an den Wänden." Im Wartezimmer liegen Spiele, Mal- und Bastelzeug aus, gespendet vom "U.S. National Council of Jewish Women". Nach der Behandlung dürfen sich die kleinen Patienten aus einer Geschenk-Box bedienen. Von den insgesamt sechs Stühlen der Klinik stehen vier in einem Raum, einer in jeder Ecke. Bei der Arbeit kommen sich nicht nur Patient und Zahnarzt näher, sondern auch die Kollegen untereinander. Und zwar im wörtlichen Sinne, denn behandelt wird Rücken an Rücken, dicht an dicht. Doch das Großraum-Sprechzimmer hat Susanne Frankenberger nie gestört. "Das ist schön, viel schöner als bei uns", meint sie. "Es macht einen Riesenspaß. Und man motiviert sich auch gegenseitig." Ein wenig beengt, aber gemütlich sind die DVI-Räumlichkeiten. Und Trudi Birger hat ihr Büro selbstverständlich direkt nebenan.
Keine Sprachprobleme
"Man versteht nicht viel von der Sprache", das gibt Susanne Frankenberger zu. Denn ihre kleinen Patienten redeten natürlich Hebräisch. Damit das linguale Problem nicht zum dentalen Problem wurde, war ihre Helferin Juliette zur Stelle. "Und sie hat immer daneben gesessen und die Kinder beruhigt."
Von ihrem Arbeits-Urlaub brachte Susanne Frankenberger eine Urkunde mit - und viele Erinnerungen.
Beeindruckt war die freiwillige Urlaubs-Zahnärztin von der Qualität der Behandlung. "Das Niveau ist sehr hoch", sagt sie. Sowohl von der Ausstattung als auch vom verwendeten Material her sei die Klinik auf dem neuesten Stand. Hierfür sorgt insbesondere der medizinische Direktor der DVI-Klinik, Dr. Moti Moskovitz, der an der Hebräischen Hadassah-Universität unter anderem Kinderzahnheilkunde lehrt. "Und natürlich Trudi", sagt Susanne Frankenberger. "Wenn's um ihre Klinik geht, will sie nur das Beste." Da die freiwilligen Zahnärzte erfahrungsgemäß unterschiedliche Praktiken mit nach Jerusalem bringen, wurden eigene DVI-Behandlungsstandards erarbeitet. Schmerzfreiheit ist das oberste Gebot, wie Moskovitz betont: "Wir hoffen, die Kinder und ihre Eltern zu überzeugen, dass Zahnbehandlung kein traumatisches Erlebnis sein muss." Ein Behandlungsplan ist für jeden Patienten Pflicht. Bevor die Jungen und Mädchen sich auf einen Stuhl setzen können, müssen sie zum Prophylaxe-Unterricht. "Wir legen großen Wert auf die Erziehung zu oraler Gesundheit", so Moskovitz. "Deshalb empfehlen wir, dass ein Kind, wenn es mit viel Plaque oder Zahnstein ankommt, zur Mundhygiene zurück geschickt und nicht behandelt wird."
Unterricht für Patienten
Prävention ist eine zentrale Aufgabe der DVI-Klinik. Um die Mundhygiene der jugendlichen Patienten zu verbessern, wurde 1983 das "Suzanne Dellal Prevention Center" eingerichtet. In einem eigens hierfür ausgestatteten Klassenraum lernen Schulkinder von einer Helferin die richtige Pflege ihrer Zähne, sie sehen sich Videos und Diavorführungen an, üben den Umgang mit der Zahnbürste und erhalten Hausaufgaben, die sie bis zu ihrem nächsten Besuch in der Klinik lösen müssen. Bis zu 200 Mädchen und Jungen kommen täglich zur DVI-Schule. Die Jüngsten sind gerade mal zwei Jahre alt. Zum Konzept gehört daher auch, dass die Kinder und ihre Eltern gemeinsam zu einer besseren Mundhygiene erzogen werden. Das Präventions-Programm wurde einem Modell nachempfunden, welches von der renommierten schwedischen Universitätsklinik Karolinska Institutet entwickelt wurde.
Jubiläums-Kongress
Pünktlich zum 20-jährigen Bestehen machte sich das Projekt Anfang Mai ein eigenes Jubiläumsgeschenk. Der mittlerweile dritte "International DVI Dental Congress" holte Zahnmediziner aus aller Welt nach Jerusalem. "Prävention und Behandlungskonzepte für das dritte Jahrtausend" war Thema des Kongresses, der in Zusammenarbeit mit der Fakultät für Dentalmedizin an der Hadassah-Universität veranstaltet wurde. Als deutscher Vertreter nahm Dr. Dirk C. van Gogswaardt teil, Oberarzt der Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik und Werkstoffkunde an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Das Lebenswerk einer Überlebenden
Trudi Birger, Gründerin und Präsidentin von "Dental Volunteers for Israel"
"Meine Lebensgeschichte ist wie eine Aneinanderreihung von Wundern." Trudi Birger, Mikrobiologin, 1927 in Frankfurt geboren und Jüdin, überlebte als Mädchen das Ghetto Kowno und das Konzentrationslager Stutthof. Ihr Bericht über ihr jahrelanges Martyrium in den Vernichtungslagern der Nazis ist als Buch erschienen. "Im Angesicht des Feuers" wird demnächst von einem italienischen Regisseur verfilmt.
"Ich habe mir damals geschworen: Wenn ich das überlebe, dann will ich dafür sorgen, Leid von jedem Kind abzuwenden." So entstand die Idee zum DVI-Projekt. "Das ist mein Lebenswerk." Für ihre Verdienste und ihren Einsatz erhielt Trudi Birger vor einiger Zeit den Ehrenpreis des Gesundheitsministeriums des Staates Israel. "Wenn ich an etwas glaube, dann gehe ich dafür durch die Wand", sagt sie. "Und mit DVI bringen wir das Lachen zurück auf die Gesichter unserer Kinder."
Zwei Kollegen aus den USA, einer aus Schweden und eine junge norwegische Zahnärztin waren Susanne Frankenbergers Mitstreiter während ihrer DVI-Zeit. "Die Amerikaner sind in der Regel alle Spezialis-ten", erklärt sie. "Für Endodontie oder Kinderzahnheilkunde. Das war für mich ganz gut, ich habe in dem Bereich eine Menge gelernt." Rund 2 500 Zahnärzte haben seit Gründung der Klinik an der Mekor Chaim Street gearbeitet, sie kamen aus Australien, Kanada und Dänemark, aus Finnland, Frankreich und Norwegen, aus Neuseeland, Schweden, der Schweiz und natürlich aus Deutschland. Die meisten sind jedoch US-amerikanische Mediziner, häufig aus jüdischen Familien. Eine New Yorker Pädodontistin nutzte ihre freiwilligen DVI-Wochen, um an der Jerusalemer Stadtmauer eine Bar Mitzvah für ihren jüngsten Sohn zu feiern. Allerdings, so betont Trudi Birger, ist Glaube natürlich kein Kriterium für eine Teilnahme: "Zahnärzte aus allen Ländern und Religionen haben sich bei unserem Projekt eingebracht. Da ist es wohl überflüssig zu sagen, dass wir alle Freiwilligen mit offenen Armen willkommen heißen."
Wie in einer Familie
Für ihren Flug und alle anstehenden Kosten müssen die freiwilligen Zahnärzte selbst aufkommen. Allerdings werden ihnen von DVI Apartments zur Verfügung gestellt. "Und die Wohnungen sind wirklich sehr groß", erzählt Susanne Frankenberger, die während ihrer vier hebräischen Wochen im Norden Jerusalems residierte. "Einige Kollegen bringen nämlich ihre gesamte Familie mit." Ein junger Zahnarzt aus den USA war zur gleichen Zeit wie sie nach Israel gekommen - mit seiner Frau und seinem kleinen Kind. "Und Trudi kümmert sich um alles." Die DVI-Präsidentin organisierte Konzertbesuche und Stadtrundfahrten, lud zu gemeinsamen Abendessen ein und zum Hannukkah-Fest.
Kindgerechte Behandlung ist in der DVI-Klinik wichtig - und dazu gehören auch schon mal Luftballons.
"Das ist wie eine Familie." Gemeinnützig ist das DVI-Projekt, natürlich, und nicht-kommerziell. Begründerin Trudi Birger ist gleichzeitig Präsidentin der Organisation. Mittlerweile hat DVI Repräsentanten in 13 Ländern, in Europa, Amerika und Australien. Genauso international wie diese Botschafter sind auch die Spenden, die an der Mekor Chaim Street eingehen. Auf die ist die Klinik dringend angewiesen, denn ihren Haushalt bestreitet sie zu 95 Prozent aus eigenen Mitteln. Den Rest steuert die israelische Regierung bei.
Keine Konkurrenz
Eine Konkurrenz zu den niedergelassenen Zahnärzten in Jerusalem sei Trudi Birger auf keinen Fall. "Sie nimmt da niemandem etwas weg. Sie kümmert sich nur um die Patienten, die sonst überhaupt nicht behandelt würden", so Susanne Frankenberger.
Die allmorgendliche Fahrt zur Klinik wurde für sie zum multikulturellen Erlebnis. Einmal der Länge nach durch Jerusalem ging's mit dem Linienbus, den sie nicht an der Nummer erkannte, sondern an der Musik, die der Fahrer lautstark in seinem Radio hörte. "Und seit ich dort einmal durch die Altstadt gegangen bin, kenn' ich keine Angst mehr", schmunzelt sie. Von Vorteil sei, dass die DVI-Klinik wirklich stadtbekannt ist. "In Jerusalem wird man ständig darauf angesprochen." Außer an Samstagen, denn am Sabbat findet einfach kein öffentliches Leben statt: "Alles geschlossen, kein Bus fährt, nichts."
Um in der DVI-Klinik als Patient aufgenommen zu werden, müssen die Kinder und ihre Familien nachweisen, dass sie sich eine reguläre Zahnarztbehandlung nicht leisten können. Das "Social Welfare Department", das Jerusalemer Sozialamt, stellt entsprechende Bescheinigungen für sozial schwache Familien aus. Auch Waisen und behinderte Kinder erhalten bei DVI kostenlose Behandlung. Mehr als 25 000 Patienten kamen in den vergangenen 20 Jahren zur Klinik - Juden, Moslems, Christen und seit einiger Zeit auch viele Immigranten aus Russland und Äthiopien. "Es ist eine viel leichtere Behandlung als in Deutschland", sagt Susanne Frankenberger. "Die Kinder sind nicht so kompliziert, nicht so verwöhnt."
Die einmalige Behandlung eines Kindes kostet, so wurde es bei DVI errechnet, rund 120 DM. Für eine komplette zahnmedizinische Versorgung fallen pro Kopf etwa 800 DM an. Das jährliche Budget liegt bei 600 000 DM, womit neben zahnmedizinischen Artikeln auch die laufenden Kosten der Klinik und die Gehälter für die festen Zahnarzthelferinnen abgedeckt werden.
"Die waren alle so dankbar", erinnert sich Susanne Frankenberger. Häufig brachten die Patienten Kuchen oder Süßigkeiten als Geschenke mit in die Klinik. "Einmal wurde ich sogar von einer Familie zu einer Bar Mitzvah eingeladen." An dem traditionellen jüdischen Beschneidungs-Ritual nehmen ansonsten nur Angehörige und enge Freunde teil.
Kontakt zu Israels freiwilligen Zahnärzten
"Dental Volunteers for Israel" (DVI) ist eine gemeinnützige Organisation. Wer das Projekt unterstützen oder als freiwilliger Zahnarzt mitwirken möchte, kann sich an den DVI-Repräsentanten in Deutschland wenden:
Armand Büchsenspanner, ZA
Liebigstraße 18
60323 Frankfurt/Main
Tel.:
Fax: 069/720019
Spenden können per Scheck übermittelt werden an:
Trudi Birger, DVI
2 Hameyassdim Street
Jerusalem 96224
Israel
Weitere Informationen über DVI sind im Internet zu finden unter: www.interdent.co.il/clinics/dvi/dvi.htm
Am liebsten dableiben
Wenn sie an ihre Zeit in der DVI-Klinik denken, geraten die freiwilligen Zahnärzte geradezu ins Schwärmen. "Wir hatten eine wundervolle Zeit", erinnert sich Dr. Jan van Tongeren aus den Niederlanden. "Wir haben in einer wunderbar harmonischen Atmosphäre gearbeitet, haben Kindern geholfen, die es so dringend brauchen, und viele, viele nette Menschen kennengelernt." Ähnlich hat es auch Susanne Frankenberger empfunden. "Beim Abschied haben meine Helferin Juliette und ich richtig geweint. Am liebsten wär' ich dageblieben. Oder hätte alle mit nach Hause genommen." Und weil das nicht ging, will sie noch in diesem Jahr zurück nach Jerusalem. "Ich hab' mich schon vormerken lassen, für September."
zm 10/2000, Seite 102
http://www.zm-online.de/m5a.htm?/zm/10_00/pages2/int1.htm