Wir haben keine Wahl“
Haitis verzweifelter Kampf gegen Naturgewalten und Trümmerberge –
„Bilder gehen um die Welt, aber die Verzweiflung bleibt am Ort“, so ein Zitat von Autor Michael Hillen. Obwohl es in einem anderen Kontext geschrieben wurde, beschreibt es treffend die Situation der haitianischen Bevölkerung wenige Monate nach dem Erdbeben. Trotz milliardenschwerer internationaler Hilfe geht der Wiederaufbau nur langsam voran. Nach wie vor gleicht die Insel einem Nachkriegsschauplatz.
Viele deutsche Firmen und Privatpersonen wollten helfen – darunter auch die Daisy Akademie + Verlag GmbH aus Heidelberg. Gemeinsam mit dem Berliner Quintessenz-Verlag, dem Deutschen Zahnärztlichen Rechenzentrum (DZR), Stuttgart, und der Firma EFP aus Mannheim spendete Daisy rund 12.000 Euro für den Karibikstaat. „Das Leid der haitianischen Bevölkerung hat uns tief betroffen gemacht“, sagt Daisy-Geschäftsführerin Sylvia Wuttig, „daher haben wir uns entschlossen, das Hilfswerk deutscher Zahnärzte (HDZ) unter Leitung von Dr. Klaus Winter zu unterstützen. Die Stiftung wird von Charity Watch aufgrund ihres geringen Verwaltungsaufwands als ‚seriös und spendenwürdig‘ eingestuft.“
Um sich davon zu überzeugen, dass die finanzielle Hilfe auch ankommt, beauftragte die Spendergemeinschaft eine Reportagereise nach Haiti, die mit freundlicher Unterstützung der Fluglinie Condor realisiert werden konnte. Dabei entstanden die nachfolgenden Eindrücke und Fotos.
„In Haiti hat die Armut ein ganz eigenes Gesicht“, beschreibt Winter die Situation auf der Karibikinsel. „62 Prozent der Bevölkerung sind unterernährt, über die Hälfte kann weder lesen noch schreiben, und bis vor einigen Jahren hatte Haiti die höchste Aids-Rate außerhalb Afrikas.“ Hinzu kommt, dass durch Abholzung und Erosion nur ein Drittel des Landes wirtschaftlich nutzbar ist. Ein Großteil der Nahrungsmittel muss daher importiert werden. Bereits vor dem Beben war das Land, das durch Kolonialkriege, Korruption und Misswirtschaft gezeichnet ist, fast vollständig von internationaler Hilfe abhängig.
Ein weiteres Problem ist die große Zahl an Kindern und Jugendlichen. Haitis Bevölkerung ist jung – sehr jung. Das Durchschnittsalter liegt bei 20 Jahren. Viele haben keine Eltern mehr, sind HIV-infiziert oder obdachlos. Bereits vor dem Beben lebten in Port-au-Prince Tausende von Kindern in Straßengräben, Kanälen oder unter Plastikplanen. Wie viele es jetzt sind, weiß niemand. Das Hilfswerk deutscher Zahnärzte unterstützt daher seit Jahren eine Mission in Port-au-Prince, die mehrere Straßenkinderzentren, Schulen und Berufsbildungseinrichtungen betreut. „Mit Bildung aus der Armut“, so lautet der Leitsatz der Don-Bosco-Mission, die zum weltweit tätigen Orden der Salesianer gehört. „Die Don-Bosco-Einrichtungen waren in Port-au-Prince eine wichtige Anlaufstelle für die Ärmsten der Armen“, so Winter. Mehr als 26.000 Mahlzeiten gaben die Salesianer täglich an Slum-Bewohner aus. In den Straßenkinderzentren von Lakay und Lakou bekamen 900 Kinder einen Platz zum Schlafen und eine warme Mahlzeit. Das ENAM-Zentrum bildete Jugendliche in Handwerksberufen aus, und 54 Mini-Schulen unterrichteten Kinder im Lesen und Schreiben.
„Wir haben über 30 Jahre gebraucht, um alles so aufzubauen, wie es vor dem Erdbeben war“, sagt Pater Jacques Charles , „die Natur benötigte nicht einmal 30 Sekunden, um alles zu zerstören.“ Er schätzt die finanziellen Schäden auf mehr als 50 Millionen Euro.
Mehr als 500 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen fünf und 17 Jahren wurden unter den einstürzenden Missionsgebäuden begraben, viele Leichen sind noch immer nicht geborgen. Der Schock sitzt bei allen Ordensmitgliedern tief. Pater Wim Boksebeld lebt seit dem Beben in einem kleinen Zelt auf dem ENAM-Gelände. Auch er wäre unter den herabstürzenden Etagen des Schulgebäudes fast verschüttet worden. „Zehn Zentimeter über meinem Kopf kam die Betondecke zum Stehen“, sagt der 67-Jährige. „Ich glaube, der liebe Gott brauchte mich hier unten noch.“ Auch sein Ordensbruder, Pater Lephène Pierre, kam mit dem Schrecken davon. Zwei andere Padres hatten weniger Glück (die DZW berichtete).
Dass es trotz dieser Umstände auf den Straßen von Port-au-Prince insgesamt friedlich geblieben ist, ist zum einen der Präsenz der zahlreichen Blauhelmsoldaten zu verdanken, die in der Stadt patrouillieren. Zum anderen trägt das Engagement der Hilfsorganisationen dazu bei, Ruhe zu bewahren, denn die Erstversorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser, Lebensmitteln und Medikamenten ist mittlerweile gut organisiert. Und auch die Kirchen, in denen die Menschen scharenweise Zuflucht suchen, sorgen für Stabilität. „Die Menschen sind seit jeher leidgeprüft“, sagt Pater Jacques, „sie haben sich daher recht schnell an die Situation angepasst. Aber wenn man in ihre Augen sieht, dann erkennt man, wie traumatisiert viele noch sind.“
Schlimme Einzelschicksale und bewegende Bilder werden die Berichterstattung über Haiti noch lange begleiten, doch auch Hoffnung ist in der Hauptstadt des Karibikstaats spürbar. Auf den Straßen herrscht wieder reges Markttreiben. Fliegende Händler preisen ihre Waren, an und es wimmelt von Menschen. Die meisten sind selbst in größter Not noch sauber gekleidet, man hilft sich gegenseitig, packt mit an, wo es notwendig ist, und bis tief in die Nacht tönt aus alten CD-Playern lautstark Musik. Auch die große Freundlichkeit, mit der die Bevölkerung Fremden begegnet, ist berührend.
„Das Leben geht weiter“, sagt Pater Jacques, „und Gott möge uns Kraft geben, diesen Alptraum zu überstehen. Dank Mitmenschen wie Ihnen sind wir wenigstens nicht ganz alleine.“ Auch Dr. Winter vom HDZ ist noch immer gerührt von der großen Anteilnahme der Zahnärzte und der Dentalbranche am Schicksal Haitis: „Mehr als 150.000 Euro sind inzwischen gespendet worden, dafür möchten wir uns recht herzlich bedanken.“
Yvonne Schubert, Mannheim