So manches kollegiales oder freundschaftliches Gespräch hört sich dieser Tage fast an wie eine Sitzung beim Therapeuten: Der Chef spinnt mal wieder? Der Typ ist sowieso ein Narzisst. Jemand im Freundeskreis wurde betrogen? Was für eine toxische Beziehung! Aber er war ja eh ein Psychopath. Und was der Kollege kürzlich in der Konferenz sagte, hat euch hart getriggert. Kommt euch das bekannt vor?
Die große Sehnsucht nach Psychologie to go
Toxisch, narzisstisch, psychopathisch: Diese Begriffe gehören längst nicht mehr ausschließlich in das Behandlungszimmer einer therapeutischen Sprechstunde, sondern sind mittlerweile Teil unseres Alltagswortschatzes. Aber warum eigentlich? Fakt ist: Seit der Pandemie ist die Nachfrage nach Therapie stark gestiegen, Therapeuten verzeichnen laut der Deutschen Psychotherapeuten-Vereinigung 40 Prozent mehr Patienten-Anfragen.
In der „Spiegel“-Bestseller-Liste sind aktuell gleich drei Bücher zum Thema Psychologie und Selbsthilfe in den Top Ten. Psychologie-Podcasts boomen und Therapeuten gehen mittlerweile sogar auf Tour und lehren vor ausverkauftem Hallen. Das ist erstmal etwas Gutes. Denn: Je mehr Informationen wir über unsere Psyche haben, desto besser können wir uns um unser Wohlbefinden kümmern. Aber muss deshalb gleich unser Wortschatz angeglichen werden?
Christian Lüdke, Psychotherapeut mit eigener Praxis und Autor, sieht das kritisch: „Die meisten dieser Wörter werden völlig übertrieben verwendet. Und sind eigentlich auch gar keine Erklärung, sondern sogar ein Abwehrmechanismus.“ Er macht sein Beispiel an der toxischen Beziehung fest: „Wenn ich eine Beziehung als toxisch abstemple, muss ich mich nicht weiter damit befassen. Dann war das einfach eine irre Geschichte und es liegt nicht an mir. Ich muss also selbst nichts ändern, nicht genauer hinzuschauen, nicht über meinen Anteil nachdenken“, so Lüdke.
Nicht jeder Schmerz ist toxisch – manchmal ist es auch ganz normaler Liebeskummer
Dabei liegt genau hier die Chance: Warum habe ich mir genau einen solchen Menschen als Partner oder Partnerin ausgesucht? Was habe ich dazu beigetragen, dass die Beziehung so verlaufen ist? Was brauche ich eigentlich, um glücklich zu sein? Das wären laut des Experten Fragen, die man sich stellen sollte und die einen weiterbringen würden – viel mehr als den anderen zu pathologisieren.
„Wenn ich herausfinde, warum die Beziehung gescheitert ist, zum Beispiel durch Missverständnisse oder Zeitmangel – übrigens die häufigsten Gründe –, dann kann ich es beim nächsten Mal besser machen“, sagt Lüdke. Den Schmerz zu fühlen, birgt also auch eine Chance, ihn zu überwinden. Auch wenn das natürlich ganz schön weh tun kann. „Liebeskummer ist schmerzhaft“, so der Psychologe, „deshalb war aber nicht gleich die ganze Beziehung toxisch.“