SPIEGEL ONLINE: Sie haben eine Studie veröffentlicht, in der Sie die Arbeit großer westlicher NGOs als intransparent, ineffektiv und kontraproduktiv beschreiben. Woher kommt diese harsche Kritik?
McMahon: Ich habe kein Anti-NGO-Buch geschrieben, das möchte ich ganz klar betonen. Was ich aber sagen will: Viele Jahre lang wurden Nichtregierungsorganisationen im Westen romantisch verklärt. Das hängt vor allem mit dem Umstand zusammen, dass zivilgesellschaftliche Organisationen und Akteure entscheidend zum Fall der kommunistischen Diktaturen in Osteuropa beitrugen und den demokratischen Übergang prägten. Sie wurden als leuchtendes Beispiel gesehen. Ich meine jedoch: Wir brauchen heute mehr Skeptizismus und Realismus gegenüber NGOs.
SPIEGEL ONLINE: Warum?
McMahon: Große internationale NGOs, seien es bekannte Hilfs- und Entwicklungsorganisationen, seien es Stiftungen reicher US-Milliardäre, sind sehr mächtig. Sie verfügen über sehr viel Geld, manchmal über mehr als die Staatshaushalte der Länder, in denen sie arbeiten. Zum Teil kommt das Geld von Regierungen, die vor zwei, drei Jahrzehnten angefangen haben, bestimmte internationale Entwicklungsaufgaben an NGOs auszulagern. Indirekt verfolgen diese NGOs damit die Interessen der geldgebenden Regierungen. Zum Teil ist aber auch unklar, woher das Geld kommt, mit dem diese Organisationen arbeiten, oder wofür genau sie es einsetzen. Zudem bewirken die Projekte dieser NGOs oft nur wenig oder gar nichts von dem, was sie versprechen. Das gilt vor allem für abstrakte Projekte wie Friedensmissionen. Für meine Studie habe ich dazu vor allem Fälle in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo untersucht.
SPIEGEL ONLINE: Was haben Sie dort vorgefunden?
McMahon: Nach den Kriegen in den beiden Ländern in den Neunzigerjahren haben große westliche, internationale NGOs dort viel Geld, Zeit und Energie in Projekte im Bereich Menschenrechte, Frauenrechte oder interethnische Versöhnung investiert und dabei auch zahlreiche örtliche NGOs eingebunden. Das waren Bereiche, die den internationalen Geldgebern oder diesen Organisationen zu der Zeit wichtig erschienen, Themen, die auf der politischen Agenda des Westens standen und in Mode waren. Anzeichen für Veränderungen oder für Ergebnisse gab es aber wenig. Irgendwann verschwanden diese großen NGOs wieder und damit auch die vielen kleinen örtlichen Partner.
SPIEGEL ONLINE: Können Sie Beispiele nennen?
McMahon: Ich war nach der Jahrtausendwende immer wieder in Mostar, einer Stadt, die ein Symbol der ethnisch-nationalen Trennung in Bosnien-Herzegowina ist. Dort leben in der einen Stadthälfte fast nur Kroaten, in der anderen Bosniaken. Es gab nach Kriegsende eine Reihe von NGOs, die ethnisches peace building betrieben, aber die meisten existierten eigentlich nur auf dem Papier. Sie waren stark damit beschäftigt, Fonds zu akquirieren, sie nahmen an regionalen Treffen oder internationalen Konferenzen teil, doch in der Stadt selbst haben sie kaum etwas bewirkt.
Zur Studie
Für ihre Studie untersuchte Patrice McMahon Projekte und Aktivitäten von Nichtregierungsorgansiationen in Bosnien-Herzegowina, Kosovo und Polen im Wesentlichen für den Zeitraum von 2000 bis 2010. Dazu interviewte sie NGO-Mitarbeiter in den drei Ländern. Außerdem wertete sie Daten internationaler NGOs, der US- und anderen westlichen Regierungen sowie internationalen Gremien wie der Uno aus und verglich so Projekte, deren Finanzierung und Ergebnisse. McMahon erhebt keinen expliziten Anspruch darauf, dass die Schlussfolgerungen ihrer Untersuchung weltweit gültig sind, sie hält sie jedoch für symptomatisch und geht in ihrer Studie auch kurz auf Beispiele aus Afrika und Asien ein.
SPIEGEL ONLINE: In Ihrem Buch behaupten Sie auch, dass große internationale NGOs mitunter einen regelrecht schädlichen Einfluss haben. Was meinen Sie damit?
McMahon: Sie fokussierten sich in Bosnien-Herzegowina oder im Kosovo häufig auf die von mir genannten Themen, während andere wichtige Bereiche von ihnen überhaupt nicht beachtet wurden und örtliche NGOs oder Initiativen deshalb keine oder nur wenige Chancen hatten und haben, eine Finanzierung zu bekommen. Das betrifft ganz praktische Bereiche wie Bildungsprojekte für arme Menschen und für Roma, die Durchsetzung von Frauenrechten im Alltag, gesunde Ernährung oder Umweltschutz. In Brcko hatte ich Kontakt mit einer örtlichen NGO-Mitarbeiterin, die ich einmal fragte, warum es keine Umweltorganisationen in der Stadt gebe. Sie antwortete mir, bei internationalen NGOs stünde Umweltschutz in Bosnien-Herzegowina nicht auf der Agenda. Insgesamt fehlt es den großen, internationalen NGOs oft an dem Hintergrundwissen, um die Lage vor Ort gut beurteilen zu können oder relevante Arbeit zu leisten.
SPIEGEL ONLINE: Böse große internationale NGOs versus gute lokale Zivilgesellschaft?
McMahon: Nein, es ist natürlich viel nuancierter. Ich sage nicht, dass die großen NGOs oder Stiftungen schlechte Dinge tun. Sie haben sicherlich gute Absichten. Aber im Ergebnis des Umstandes, dass lokale NGOs häufig von ihnen abhängig sind, setzen sie die Prioritäten und bringen lokale Akteure oft unabsichtlich, manchmal auch absichtlich von dem ab, was diese mit begründeter Expertise für wichtig und relevant halten.