Ein Zahn ist schnell gezogen. Der Schmerz hört dann auf. Der Fellbacher Zahnarzt Dr. Harald Jäckle und seine Mitstreiter ziehen in Eritrea nicht selbst eitrige Zähne. Stattdessen bilden sie Menschen in der zahnmedizinischen Kunst aus: „Hilfe zur Selbsthilfe ist unser oberstes Credo“, sagt Jäckle. Jedes Jahr verbringen er und andere Helfer aus Fellbach mindestens zehn Tage im Nordosten Afrikas.
In Eritrea leben Menschen in extremer Armut, ein autoritäres Regime regiert dort mit harter Hand, man kann sich üble Krankheiten einfangen, im Sommer steigt die Temperatur an der Küste auf um die 50 Grad, und das Auswärtige Amt warnt ausdrücklich vor Reisen etwa ins Grenzgebiet zu Äthiopien: Dr. Jäckle ist sich der Gefahren wohl bewusst.
Trotzdem fliegt er hin, immer und immer wieder. „Ich fühle mich sicher in Eritrea. Man kann dort viel lernen“, sagt er. Tief berührt haben ihn Begegnungen mit Menschen, die fast gar nichts haben – und dennoch andere beschenken.
Ehrgeiziges Ziel: Basisversorgung im ganzen Land
Der Verein „Freie Fellbacher Zahnärzte“, dessen Vorsitzender Jäckle ist, hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: Ganz Eritrea soll auf eine zahnmedizinische Basisversorgung zurückgreifen können. Beeindruckend viel ist schon erreicht.
Mehrere Zahnkliniken sind eingerichtet oder im Aufbau. Eine Vielzahl von versierten Assistenzkräften kann selbst Anästhesie-Spritzen setzen, Zähne ziehen oder Füllungen fachgerecht einsetzen. Seit 2016 arbeiten die Fellbacher zudem mit den ersten 17 frisch examinierten einheimischen Zahnärzten zusammen.
Zu einem Schwerpunkt hat sich die Vorsorge bei Kindern entwickelt. Deren Gebiss ist heute sehr viel häufiger als früher von Karies befallen. Das liegt am Süßzeug aus dem Westen: Zuckerhaltige Getränke erfreuen sich auch in Eritrea großer Beliebtheit, und das hat Folgen – und zwar keine guten für die Zahngesundheit.
Eine Million Zahnbürsten haben die Fellbacher im Lauf der Jahre schon nach Eritrea geschickt. Damit allein ist es aber nicht getan. Es nutzt auch nichts, betont Jäckle, allerlei Instrumente oder gar Behandlungsstühle in solch ein Land zu schicken – und dann die Menschen damit allein zu lassen.
Das Fellbacher Team wartet die gespendeten Behandlungsstühle regelmäßig, schult die Assistenzkräfte dort unermüdlich und kümmert sich um all die Details, an welchen sonst Entwicklungshilfe leicht scheitert: Ein Behandlungsstuhl wird in Eritrea innerhalb weniger Tage kaputt, sämtliche Ventile werden verstopft sein, wenn solch ein Stuhl nicht fachgerecht an eine Versorgung mit sauberem Wasser angeschlossen ist, erklärt Jäckle.
"Wir reden auch wirklich Tacheles“
Mehrere moderne Zahnbehandlungsstühle haben die Fellbacher bereits per Schiffscontainer nach Eritrea geschickt. „Es wird Tag und Nacht geschraubt, wenn wir da sind“, erzählt der 57-Jährige. Mit einem Zahnmobil fahren eritreische Assistenzkräfte seit vielen Jahren übers Land, und in den Dörfern stehen die Kinder in langen Reihen an, um sich einem Gebiss-Check zu unterziehen.
Es ist dort üblich, am Straßenrand erworbene Stöckchen zu zerkauen, die sich hernach als eine Art Pinsel zum Zähneputzen gut eignen. Das funktioniere aber nur dann gut, solange sich die Menschen traditionell ernähren.
„Man kann nur in der Gemeinschaft so etwas stemmen“, betont der Zahnmediziner. Sein Kollege Dr. Jens-Peter Würfel hat vor knapp 20 Jahren das Hilfsprojekt initiiert; Jäckle ist seit fünf Jahren mit dabei. Mehrere Zahnärzte aus Fellbach, ein unermüdlicher Techniker und weitere Helfer bilden den harten Kern eines Teams, das in Eritrea mittlerweile beste Kontakte unterhält.
Die Fellbacher holen hochrangige eritreische Politiker mit ins Boot; man kennt und trifft sich regelmäßig. „Wir fordern Hilfe von der Regierung. Wir reden auch wirklich Tacheles“, beschreibt Jäckle das Vorgehen. Im Gesundheitsministerium in Eritrea tragen die Fellbacher stets ihre Anliegen vor, und der inzwischen 75-jährigen eritreischen Zahnärztin Dr. Laynesh Gebrhiwet, die in ihrem Land höchstes Ansehen genießt, sind die Fellbacher seit langem freundschaftlich verbunden.
Respekt: Hochkompetente Assistenzkräfte
Mit größtem Respekt spricht Harald Jäckle von der Leistung und der Kompetenz der „dental therapists“ in Eritrea. Sie haben zwar kein Zahnmedizin-Studium absolviert, aber sie können vieles, was ein Zahnarzt kann. Jäckle und seine Kollegen schauen während der Behandlungen in den Kliniken in der eritreischen Hauptstadt Asmara oder in der Küstenstadt Massawa mittlerweile meist nur noch zu. Im Anschluss besprechen sie mit den „dental therapists“ die Abläufe: Ausbildung auf Augenhöhe findet hier statt.
Einen Weisheitszahn herauszuoperieren – das ist eine knifflige Angelegenheit. Ganz besonders dann, wenn der Operateur nicht mal eben ein Röntgenbild anfertigen kann. Jäckle zog vor seinem Engagement in Eritrea nie die Maxime in Zweifel, dass bei solch einer OP unbedingt auch das allerletzte Fitzelchen des Zahns zu entfernen sei. Seine Kollegen in Eritrea haben ihn gelehrt: Es geht auch anders – weil es ohne Röntgengerät einfach anders gehen muss.
Das Foto entstand im Sembel Hospital in Asmara, der Hauptstadt von Eritrea. Der Fellbacher Kieferorthopäde Dr. Karl-Erich Stieven arbeitet mit Studenten der Zahnmedizin aus Eritrea zusammen.
Das Foto entstand im Sembel Hospital in Asmara, der Hauptstadt von Eritrea. Der Fellbacher Kieferorthopäde Dr. Karl-Erich Stieven arbeitet mit Studenten der Zahnmedizin aus Eritrea zusammen. Foto: Privat
Jäckle hat auf seinem Laptop ungezählte Fotos gespeichert, die höchst widersprüchliche Eindrücke aus diesem Land widerspiegeln. Es sind lachende Kinder zu sehen, deren Gesichter unbändige Lebenslust ausdrücken. Andere Aufnahmen zeigen Menschen leblos auf der Straße liegend.
Jäckle hat Kriegsversehrte und Obdachlose in fürchterlichem Zustand gesehen, und das Schicksal der Frauen, die mit ihren vielen Kindern allein und ohne jegliche staatliche Unterstützung zurückgeblieben sind, stimmt ihn mehr als nur nachdenklich. Das Pendeln zwischen den Welten strengt an. Die Sicht auf die Welt, aufs eigene Leben verändert sich nach solchen Erfahrungen.
Im Umbruch: Hoffnung nach Friedensvertrag
Eritrea befindet sich im Umbruch. Erst vor kurzem hat das Land einen Friedensvertrag mit Äthiopien unterzeichnet. Es besteht Hoffnung, weshalb Jäckle hin- und hergerissen ist, wenn das Land in westlichen Medien als „Hölle Afrikas“ tituliert wird. Die Lebenserwartung der Menschen ist deutlich höher als noch vor Jahren, die HIV-Quote rückläufig.
Es sterben heute viel weniger Frauen bei der Geburt, und sie bringen nicht mehr so viele Kinder zur Welt als vor Jahren noch üblich. Christen und Muslime leben friedlich miteinander, diesen Eindruck hat Jäckle mehr als einmal gewonnen. Bereits Grundschulkinder sprechen englisch. An der Universität in der Hauptstadt begegnete Jäckle Zahnmedizin-Studenten, die voller Wissbegier die Inhalte aufsaugten, als wollten sie alles an einem Tag lernen.
Erfolge: Beide Seiten profitieren
Harald Jäckle mag die Menschen in dem Land am Roten Meer. Er schätzt ihre „offene, freundliche, verbindliche“ Art, ihre Ambitionen, ihr „Riesenpotenzial“. Das Land könnte sich nun, da der Krieg mit Äthiopien zu Ende ist, „hervorragend entwickeln“, daran zweifelt Jäckle nicht im Geringsten. „Die Frage ist, ob es die Politik dort will.“
Der Zahnarzt und seine Fellbacher Mitstreiter werden am Ball bleiben. Im März 2019 steht die nächste Reise an, das steht jetzt schon fest: „Man sieht Erfolge. Diese Erfahrung möchte ich nie missen.“
Fakten zum Land
Im Zentralstaat Eritrea trifft der Präsident alle wesentlichen Entscheidungen. Das Auswärtige Amt schreibt in seinen Länderinformationen zu Eritrea: Es gibt keine Gewaltenteilung. Eritrea ist ein Einparteienstaat.
Das Parlament tritt nur auf Anforderung des Präsidenten, zuletzt 2001, zusammen. Es ist damit faktisch inaktiv.
Die Ausübung von Grundrechten wie Rede– und Meinungsfreiheit, Versammlungs- und Religionsfreiheit ist nicht oder nur extrem eingeschränkt möglich.
Zahlreiche Regimekritiker wurden seit 2001 ohne rechtsstaatliches Verfahren verhaftet und sind seit Jahren ohne jeden Kontakt zur Außenwelt an geheimen Orten inhaftiert.
Die innenpolitische, wirtschaftliche und soziale Lage in Eritrea wird seit Jahren in erster Linie durch den Grenzkonflikt mit Äthiopien bestimmt. Vor kurzem haben die beiden Länder einen Friedensvertrag unterzeichnet. Damit ist offiziell der Krieg beendet, der Zigtausende Tote gefordert und die ganze Region destabilisiert hatte.
Spenden
Im Verein „Freie Fellbacher Zahnärzte“ sind 25 Praxen engagiert – und damit fast alle Zahnarztpraxen in Fellbach.
Der Verein unterstützt eine Vielzahl von Projekten. Die zahnmedizinische Hilfe für Eritrea ist das Hauptprojekt.
Organisatorisch ist die Eritrea-Hilfe des Vereins in die „Stiftung Hilfswerk Deutscher Zahnärzte“ eingegliedert.
Das Spendenkonto der Stiftung: IBAN: DE28300606010004444000 / BIC: DAAEDEDDXXX