Schon am ersten Morgen wurde ich an den Operationstisch neben einen Arzt der Brustklinik gestellt, über den ich haarsträubende Gerüchte gehört hatte. Er arbeitete frei nach dem Motto "Einfach mal machen!"
Grenzüberschreitungen
Auslandserfahrungen können die Augen öffnen, schockieren und inspirieren. Hier erzählen junge Menschen, was sie in ihrem Auslandsaufenthalt gelernt haben – und wie sich ihre Perspektive auf Deutschland geändert hat.
Wir haben sechs Stunden am Stück Patientinnen in verschiedenen Endstadien von Brustkrebs operiert. Bei den meisten konnte man nur noch die komplette Brust abnehmen, damit sie eine Chance hatten.
Während ich dabei geholfen habe, den schwerkranken Frauen die Brüste zu amputieren, schwärmte der Arzt immer wieder über die Möglichkeiten, die man in Südafrika habe.
Das wirkte auf mich sehr zynisch, aber nach mehreren Stationen in diesem Krankenhaus habe ich auch verstanden, dass man mit der Zeit wahrscheinlich abstumpft, wenn man lange unter solchen Umständen arbeitet.
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Südafrika
Südafrika liegt am südlichsten Zipfel des afrikanischen Kontinents.
Jahrzehntelang herrschte Apartheid in Südafrika, eine systematische Unterdrückung der nicht-weißen Bevölkerungsmehrheit durch Europäischstämmige. In den 90er Jahren wurde sie offiziell für beendet erklärt. Einen entscheidenden Beitrag leistete auch der damalige Widerstandskämpfer und spätere Präsident Nelson Mandela.
Mandelas Partei, der African National Congress (ANC) mit dem jetzigen Staatschef Jacob Zuma, ist bis heute an der Macht. Auch wenn die Apartheid vor mehr als 20 Jahren für beendet erklärt wurde, sind die Folgen heutzutage überall präsent.
Die nicht-weiße Bevölkerung lebt oft immer noch unter ärmsten Verhältnissen – sozialer Aufstieg ist für sie kaum möglich.
Am Ende des OP-Tages habe ich die "Ausbeute" in die Pathologie getragen: zwei Zehn-Liter-Eimer voller weiblicher Brüste.
Von morgens bis spätnachmittags waren die Tage von uns ausländischen Hilfskräften getaktet. Die teils Ärzte waren auf unsere Mitarbeit angewiesen, weil nur wenige einheimische Studenten vor Ort waren.
Eine Schonfrist gab es für uns nicht.
Das Krankenhaus im Licht des Sonnenuntergangs in Kapstadt.
Das Krankenhaus im Licht des Sonnenuntergangs in Kapstadt. (Bild: Privat)
Als ich in die Abteilung "Traumatologie/ Notfälle" kam, begrüßte mich der Oberarzt mit den Worten: "This is as close as it gets to a war zone!" – Hier ist man schon fast in einer Kriegszone. Erst dachte ich, er übertreibt. Es stellte sich heraus, dass das nicht der Fall war.
This is as close as it gets to a war zone.
Oberarzt im kapstädter Krankenhaus
Die Verletzten in der Traumatologie kamen häufig aus Khayelitsha, einer Township mit 300.000 Einwohnern. Nicht-weiße Menschen wurden während der Apartheid in die Townships zum Zwecke der "Rassentrennung" deportiert – und leben dort oft heute noch auf engem Raum und in ärmsten Verhältnissen.
Die Verletzten, die ins Krankenhaus kamen, sind Täter oder Opfer der brutalen Bandenkriege, die in solchen Armutsvierteln zum Alltag gehören.
So protestiert Südafrika gegen sexuelle Gewalt
3600 schmutzige Höschen gegen Belästigung und Vergewaltigung.
Im Front Room, einem langgestreckten Korridor mit bis zu 30 Betten, wurden Patienten mit Knochenbrüchen, Schusswunden und Messerstichverletzungen erstversorgt.
Schon beim Betreten des Korridors schlug einem der Geruch von Schweiß, Urin und Kot entgegen.
Der Ost-Flügel des Krankenhauses.
Der Ost-Flügel des Krankenhauses. (Bild: Privat)
Besonders an den Wochenenden wurden junge Gangmitglieder mit schwersten Schuss- und Stichverletzungen eingeliefert, die jüngsten waren erst 14 Jahre alt. Damit die Kämpfe im Krankenhaus nicht weitergehen, mussten die Patienten oft mit Handschellen ans Bett gekettet werden. Der Front Room ist mit Stahlgittertüren geschützt und wird von Sicherheitsleuten bewacht.
Die überwiegend jungen Männer gaben bei der Einweisung frei erfundene Namen an.
Sie nannten sich September, October oder Emergency, damit sie nicht von anderen Gangmitgliedern erkannt werden. Das machte die Notversorgung für uns noch schwieriger. Bei der Blutabnahme mussten wir sehr vorsichtig sein – denn das HIV- und Tuberkulose-Vorkommen von Menschen aus den Townships liegt bei 80 Prozent.
Damit die Kämpfe im Krankenhaus nicht weitergehen, mussten die Patienten oft mit Handschellen ans Bett gekettet werden.
Damit die Kämpfe im Krankenhaus nicht weitergehen, mussten die Patienten oft mit Handschellen ans Bett gekettet werden. (Bild: Privat)
Teilweise werden die Patienten miserabel versorgt.
Max Hartenstein
Wunden wurden schnell und flach übernäht, die hygienischen Standards waren unterirdisch. Oft mussten sich zwei Patienten ein Bett teilen, andere lagen einfach auf dem Flurboden. Wenn ihre Verletzungen nicht schwerwiegend waren, mussten sie schon mal drei bis vier Tage auf die Behandlung warten.
So schrecklich die Zustände auch waren: Wir Studenten konnten sehr viel lernen.
Wir durften jegliche Formen von Stich- und Schussverletzungen nähen, ausgerenkte Gelenke und Knochenbrüche wieder in die korrekte anatomische Lage bringen.
Einmal behandelte ich einen etwa 20 Jahre alten Mann, dem im Zweikampf jemand ein Messer vom linken Auge bis zur Oberlippe durchs Gesicht gezogen hatte – ein Verletzungsmuster, das man in Tygerberg täglich sieht.
Ich versuchte, die Wunde so sauber wie möglich zu nähen, damit er nicht für den Rest seines Lebens eine hässliche Narbe im Gesicht tragen muss. Weil an diesem Tag aber viele Verletzte warteten und meine gewissenhafte Näharbeit lange dauerte, wies mich einer der Ärzte zurecht:
"Hey, wir sind hier nicht in der Schönheitschirurgie! Flick’ ihn schnell zusammen und mach mit dem nächsten weiter."
Einer der schönen Sonnenuntergänge über Kapstadt.
Einer der schönen Sonnenuntergänge über Kapstadt. (Bild: Privat)
Manchmal dachte ich an den Satz eines Austauschstudenten, der in Soweto im Einsatz war, in einem riesigen Krankenhaus in einem der größten Townships des Landes. Er sagte: "Hier siehst du in zwei Tagen mehr Stichverletzungen als ein Arzt in Deutschland in seinem ganzen Berufsleben."
Hier siehst du in zwei Tagen mehr Stichverletzungen als ein Arzt in Deutschland in seinem ganzen Berufsleben.
Austauschstudent in Südafrika
Genau deshalb habe ich in diesen vier Monaten aber auch unglaublich viel gelernt. Ich durfte eigene Patienten betreuen und Aufgaben übernehmen, die ein Assistenzarzt in Europa frühestens im zweiten Jahr ausführen darf.
Allerdings haben mich einige Umstände immer wieder schockiert: Der Zynismus der Ärzte, aber auch die Gleichgültigkeit und zum Teil schlechte Ausbildung des Pflegepersonals, die geplagt waren von alltäglichen Sorgen, etwa um Lebensmittel und Gewalt auf den Straßen.
Deine Zeit im Ausland
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Es schockiert mich, wie die Zweiklassengesellschaft in Südafrika – als direktes Überbleibsel der jahrzehntelangen Apartheid – immer noch so deutlich spürbar ist.
Sie zieht sich bis in die Grundfeste des Landes, bis in die Gesundheitsversorgung seiner Bewohner. Es fehlt Südafrika an medizinischen Einrichtungen und an verantwortungsbewussten Ärzten, die sich der Menschen dort annehmen. Das muss sich ändern.
Heute bin ich wieder in Deutschland, dem Land mit einem der besten Gesundheitssysteme weltweit. Obwohl es auch seine Fehler und Probleme hat, weiß ich es nach dieser Erfahrung erst richtig zu schätzen.