Claudia Sigel schaut in doppelt so viele Münder wie normalerweise. Zu Hause in ihrer Reutlinger Kinderzahnarztpraxis kommen rund hundert Patienten am Tag. Hier im sambischen Busch sind es um die zweihundert Kinder, die sie mit ihren Kollegen an diesem Tag untersucht, obwohl jeder Behandlungsschritt länger als normalerweise dauert.
Sigel trägt eine Kopfleuchte auf ihrem dunklen zusammengebundenen Haar, mit der sie in die Mundhöhle leuchtet, weil es keinen Strom für elektrisches Licht gibt. Auf dem Boden stehen Kanister mit destilliertem Wasser, ein Spucktopf, ein Gasbrenner und ein Sterilisationstopf für die Instrumente.
Fließendes Wasser gibt es nicht. Das Klassenzimmer der Schule von Matuya wurde für einen Tag umfunktioniert in eine Zahnarztpraxis.
»Die Kinder waren extrem geduldig, viel geduldiger als in meiner Reutlinger Praxis«
Die Kinder warten in ihrer Schuluniform geordnet in der Schlange vor dem Behandlungsstuhl, andere schauen neugierig von draußen zum Fenster hinein. Manche sind zwanzig Kilometer zu Fuß hergelaufen, bei 36 Grad im Schatten. Das ist im Busch nichts Ungewöhnliches. Ein Zahnarzt hingegen schon, nur einmal im Jahr kommt einer vorbei. Und er bringt auch noch Geschenke mit. Das spricht sich schnell herum. Immer mehr Kinder stellen sich in die Schlange und schielen in die Kiste mit Gummibärchen, Zahnbürsten und Luftballons.
Sigel prüft die Gebisse und erklärt den Kindern auf Englisch, wie sie ihre Zähne putzen müssen. Manchmal muss einer der Assistenten übersetzen in Tonga - die Sprache, die hier am meisten verbreitet ist. Das Geräusch des Bohrers hört man nicht allzu oft. »Die Kinder haben kaum Süßigkeiten, deswegen gibt es selten Karies«, sagt Sigel. Die Kleinen, die schon dran waren, spielen draußen im Busch mit ihrem neuen Ball, auf dem ist der Name einer deutschen Supermarktkette mit Reutlinger Filiale zu lesen. Die Firma hat einige Geschenke gestiftet.
Es war im Oktober, als Claudia Sigel und ihr Kollege Heiner Geigle aus Neckartenzlingen für zwei Wochen ins südliche Afrika nach Sambia aufgebrochen sind, um in einem Hilfsprojekt der Organisation »Zahnärzte ohne Grenzen« zu arbeiten - in einem Land, das zu den zwanzig ärmsten der Welt zählt. Siavonga hieß das Ziel der Reise, eine Stadt mit 70 000 Einwohnern am Kariba-Stausee im Süden des Landes. Im Koffer hatten die beiden Schwaben jede Menge Zangen und Pinzetten sowie Material für Kunststofffüllungen und Prothesen.
»Ohne das Engagement von Einzelnen würde so ein Projekt nicht funktionieren«
Sigel und Geigle bezogen Quartier bei dem Münchner Hermann Striedel, der seit vierzig Jahren in Sambia lebt, eine Pension betreibt und im Kreiskrankenhaus Siavonga eine Zahnstation mit aufgebaut hat. »Ohne das Engagement von Einzelnen wie Herrmann würde so ein Projekt nicht funktionieren«, sagt Geigle. »Zahnärzte ohne Grenzen« besorgt nur die Arbeitserlaubnis und meldet die Helfer bei den Behörden an, den Flug zahlt jeder selbst. Sigel und Geigle wurden bereits von fünf zahnärztlichen Assistenten im Krankenhaus in Siavonga erwartet. Sie packten ihr Mini-Zahnlabor aus und zeigten den sambischen Kollegen, wie man Brücken und Füllungen macht.
In der folgenden Woche fuhr das Team gemeinsam Tag für Tag in die Provinz, um Kinder in Waisenhäusern und - wie in Matuya - in Schulen zu behandeln. Hygienisch sei das manchmal grenzwertig gewesen. Einmal habe der Gasbrenner nicht mehr funktioniert, mit dem die Instrumente sterilisiert wurden, berichtet Geigle. »Wir mussten aufhören an dem Tag.« Zu groß sei die Ansteckungsgefahr zum Beispiel durch hohe HIV-Infektionsraten. Die zahnärztliche Versorgung ist in Sambia mangelhaft, besonders auf den Dörfern. Wenn ein Mensch einen entzündeten Zahn hat, kommt es nicht selten vor, dass er daran stirbt, weil ihn niemand behandelt.
Die Ausbildung der zahnärztlichen Assistenten dauert drei Jahre, ein Universitätsstudium Zahnmedizin gibt es in Sambia nicht. Vor allem aber fehlt es an Material für Prothesen. Ein Zahnarzt ist hier oft noch einer, der schmerzhaft Zähne zieht, weil er keine Möglichkeit hat, Löcher mit einer Füllung zu reparieren. Das will Claudia Sigel ändern. »Es ist gut, wenn man den Kollegen eine Hilfestellung geben kann. Es soll ja auch funktionieren, wenn wir wieder weg sind«, sagt sie. Nachhaltigkeit war für Sigel ein wichtiges Argument nach Afrika zu fahren. Sie kehrte begeistert zurück.
Angestiftet hat sie Heiner Geigle. Für ihn war es schon die zweite Reise nach Siavonga. »Die Füllung kenn ich doch«, schoss ihm manchmal durch den Kopf als er in die ein oder andere Mundhöhle blickte.
Häufig traf er Patienten aus dem letzten Jahr. Die Gesichter der Sambier zu unterscheiden fiel ihm schwer, aber an den Zähnen erkennt er sie. »Afrika - das ist einfach das komplett Andere«, sagt Geigle. Als Weißer in der Minderheit zu sein, das sei für ihn eine wichtige Erfahrung gewesen. »Es hat mich überrascht, wie zivilisiert es in Sambia ist«, gibt Sigel zu. Dankbar und freundlich seien die Leute gewesen. »Und die Kinder waren extrem geduldig, viel geduldiger als in meiner Reutlinger Praxis.«
In zwei Dörfern im Gebiet von Siavonga werden jetzt neue Krankenstationen mit Zahnarztpraxen geplant. Claudia Sigel will nächstes Jahr im Herbst wieder nach Sambia fahren, zusammen mit ihrem Mann. Er ist Oralchirurg. (GEA)
Thema von milliy im Forum Mongolei/Zahnärzte ohn...
Dicht gedrängt stehen gut zwanzig Kinder und Erwachsene im engen Klinikflur. Draußen brennt die Sonne auf das Dach des kleinen Flachbaus. Drinnen knirscht der Sand der mongolischen Steppe zwischen den Zähnen der Wartenden. Der Schweiß perlt auf der Stirn. Geduldig harren die Patienten aus, bis sie aufgerufen werden. Dann bittet Liane Wellenbrock den Nächsten auf den Behandlungsstuhl.
Normalerweise rückt Liane Wellenbrock in ihrer Lübzer Praxis Karies und Parodontose zuleibe. Doch für drei Wochen, da war alles anders - ganz anders: Statt in der Eldestadt war die Dentistin in Asien im Einsatz. Freiwillig und auf eigene Kosten. Mit der Organisation "Zahnärzte ohne Grenzen" reiste sie in die Mongolei, um den Menschen dort auf den Zahn zu fühlen. Einmal das heimische Behandlungszimmer gegen einen exotischen Arbeitsplatz tauschen und dabei benachteiligten Menschen Gutes tun - davon hat die Lübzerin schon lange geträumt. "Zahnärzte ohne Grenzen" schickte sie in das Land des Djingis Khan. Es sollte eine Reise werden, die Liane Wellenbrock so schnell nicht vergisst.
Von der Praxis
in die Jurte
Das Abenteuer beginnt schon bei der Anreise: Nach dem langen Flug von Berlin nach Ulan Bator ist das Ziel für Liane Wellenbrock und ihre drei Kollegen aus Deutschland noch längst nicht erreicht. Mit dem Kleinbus geht es in die Weite der Mongolei zu ihrem Einsatzort im Dorf Erdene Zagan, 40 Kilometer vor der chinesischen Grenze. Sieben Stunden würde der Trip dauern, hatte man den Hilfskräften versichert. Es wird ein Eineinhalb-Tage-Trip. Über größtenteils unbefestigte Straßen bahnt sich das Auto den Weg durch die Mongolei - mitten hindurch durch die unbewohnte Weite. "Wir haben stundenlang niemanden gesehen, keinen Menschen, keine Siedlung", sagt Liane Wellenbrock. Die vermeintliche Einöde entpuppt sich als imposante Idylle. "Ich konnte mich kaum satt sehen - die Wolken, das weite Land", schwärmt Liane Wellenbrock.
Nach einer Gesamtfahrzeit von 17 Stunden - Übernachtung unterwegs inklusive - erreichen Liane Wellenbrock und ihre drei Mitstreiter ihr Ziel: Erdene Zagan. Hier, in einem der vielen mongolischen Orte, die ärztlich unterversorgt sind, soll das deutsche Team helfen. Das Dorf nahe der chinesischen Grenze präsentiert sich in ähnlicher Einfachheit wie der Rest des Landes: spartanische Häuser, ein kleiner Dorfladen, ein Krankenhaus. "Die Mongolei ist ein wenig entwickeltes Land. Die Menschen leben sehr einfach und sind damit zufrieden", sagt Liane Wellenbrock. Was für die Mongolen Alltag ist, bedeutet für die Mecklenburgerin eine erheblich Umstellung. "Es ist ein krasser Unterschied", sagt Wellenbrock. Doch dass Einfachheit nicht gleich Armut bedeutet, das lernt sie hier schnell. "Die Menschen haben zwar kein fließendes Wasser, aber einen i-Pod in der Tasche", sagt die Lübzerin. Trotz Technik-Luxus - ihr Quartier beziehen die Deutschen in einer kargen Jurte. Vier Betten, ein Tisch - das war’s. Mehr gibt es in ihrer Behausung nicht. Und diese simple Ausstattung ist schon gehobener Standard, gemessen an dem, wie die Mongolen leben. Möbel - bis auf eine Kochstelle - gibt es in ihren Jurten nämlich nicht. "Wir wurden europäisch verwöhnt", sagt Wellenbrock und lacht.
Alles andere als nach einem Verwöhnprogramm sieht das Bad aus, dass sich die vier Deutschen teilen: Ein Waschbecken mit darüber hängendem Eimer vor der Jurtetür. Wände - Fehlanzeige. "Wir hatten das größte Bad der Welt", nimmt es Liane Wellenbrock mit Humor. Händewaschen können sich die Vier hier allerdings nur, solange Wasser im kleinen Eimer ist. Nachschub ist nur über eine nahegelegene Küche zu erhalten. Die hat jedoch oftmals nur dann offen, wenn die Zahnärzte im Einsatz sind. Alltagsprobleme in der Mongolei. Zum Zähneputzen wäre das Wasser ohnehin nicht geeignet gewesen. Es stammt aus einem Dorfbrunnen und ist sandig. Wasserflaschen aus dem Dorfladen sind die Notlösung. Geduscht wird an jedem zweiten Abend in einer öffentlichen Duschanlage des Dorfes. "Aber das Wasser floss nur sehr langsam", sagt Wellenbrock. Kein Problem - manche Dusche ist ohnehin vergebens. "Einmal wurden wir auf dem Weg zurück zur Jurte von einem Sandsturm überrascht", erinnert sich Wellenbrock. Da genügen 200 Meter Fußweg und das Ärzteteam ist eingesandet.
Solche Widrigkeiten nehmen die Deutschen gelassen. Es ist ein Arbeitseinsatz und kein Vergnügungsurlaub. Täglich stehen sie bis zu elf Stunden in ihrem spartanischen Behandlungsraum. Die örtliche Klinik hat ihnen ein Zimmer zur Verfügung gestellt. Mit einer mobilen Zahnstation - einem Koffer mit Kompressor und Absaugstation -, selbst mitgebrachten Instrumenten, zwei altbackenen Behandlungsstühlen und ein paar Hockern richtet das deutsche Team hier seine Praxis ein. Und die Patienten strömen vom ersten Tag an in Scharen zu ihnen. Innerhalb von drei Wochen behandeln die vier Deutschen hier rund 500 Patienten - Arbeit im Akkord. Von früh morgens bis in den Abend hinein sind Liane Wellenbrock und ihre Mitstreiter im Einsatz, immer in Zweierteams ziehen sie Zähne, füllen Zahnlöcher auf. "Für Prophylaxe war da leider keine Zeit. Wir hatten einfach zu viele Patienten zu behandeln", sagt Wellenbrock. Aus kärglichen Behandlungsbedingungen hat das Team das Beste gemacht. "Aber hier in Deutschland würde die Hygiene wohl dennoch die Hände über dem Kopf zusammenschlagen", sagt die Zahnärztin.
Bei soviel Arbeit bleibt kaum Zeit für Sightseeing. Doch ein paar wenige Ausflüge gönnen sich die Deutschen dann doch. Mit einem Dolmetscher an ihrer Seite geht es zum Naadam - dem mongolischen Nationalfest. Das Zahnarzt-Team ist dabei, als sich die jungen Mongolen im Ringkampf messen, bewundert die traditionellen Trachten der Einheimischen und ist beim Pferderennen mittendrin. Zu solchen Veranstaltungen reisen die Deutschen auf die mongolische Art: mit bis zu 13 Leuten im Kleinbus.
Aus Teamkollegen
wird eine Familie
Und auch kulinarisch wollen die Deutschen das Land im Herzen Asiens im Selbstversuch kennenlernen. "Ich habe mir vorgenommen, alles zu probieren, was uns angeboten wird", sagt Liane Wellenbrock. Bei einem Hartkäse zögert sie dann aber doch. "Da brauchte ich einen zweiten Anlauf", sagt die Lübzerin und lacht. Doch sie hat auch echte kulinarische Genüsse entdeckt. Der Milchtee - eine Mischung aus warmer Milch und Teekrümeln - hat es ihr angetan. Zu Hause in Lübz wird sie ihn aber dennoch nicht nachkochen. Lieber bewahrt sie sich die Erinnerungen an Teerunden in der Mongolei. Im Gedächtnis bleiben wird der Lübzerin auch die Zeit mit ihren deutschen Kollegen: Gerade in den Abendstunden, wenn die Arbeit getan ist, bliebt den Zahnärzten Zeit sich näher kennen zu lernen. "Wir haben viel erzählt, Sterne angeschaut, philosophiert", sagt Wellenbrock. "Aus vier Fremden ist eine Familie geworden." Schon allein wegen dieser Erfahrung steht für die Lübzerin fest: Sie will wieder ins Ausland und als Zahnärztin Menschen fremder Nationen helfen. "Nicht im nächsten Jahr, aber irgendwann sicher", sagt Liane Wellenbrock. Vorerst lässt sie in Lübz die Zahnarztbohrer surren.
Doch oft denkt sie an die drei Wochen in der Mongolei zurück. "Der Einsatz war harte Arbeit", resümiert Wellenbrock. Aber es hat sich gelohnt: Sie und ihre Mitstreiter haben hunderten Patienten geholfen. Und ganz nebenbei war es für die Lübzerin ein unvergessliches Abenteuer fernab der mecklenburgischen Heimat in der weiten Steppe der Mongolei.