Satzungen : Secours Dentaire International (SDI) ist eine schweizerische Stiftung mit dem Hauptzweck, in den Ländern des Südens soziale Zahnheilkunde zu betreiben.
Leitlinien : SDI hat ein Konzept entwickelt, das den benachteiligten Bevölkerungsschichten zahnmedizinische Behandlungen ermöglicht.
Aber einzig mit den Mitteln der Prophylaxe ist es möglich, ihre Zahngesundheit längerfristig zu verbessern.
Ich habe meine Behandlungseinheit "Marilyn" getauft, in memoriam an die Monroe, von der der Regisseur Billy Wilder sagte, sie sei extrem unberechenbar gewesen - und noch nicht einmal darauf hätte man sich verlassen können... . Nun mag es ja für vier Wochen eine ganz spannende Erfahrung sein, auch einmal mit primitiven "Bordmitteln" zu operieren; für meine mehr als einjährige Tätigkeit jedoch hatte ich höhere Ziele und war heilfroh, als die absaugerlosen und kompressorschwachen Zeiten dank einiger potenter Spenden endlich vorüber waren: alles hat seine Grenzen, auch die Relativität der Trockenlegung sollte sie haben!
Und woher stammt eigentlich das Gerücht, Zahnärzte kämen im Ausland auch ohne große Sprachkenntnisse klar? Gibt es in anderen Ländern keine Angstpatienten, Hippelkinder, Patienten, die sofort "alles raus!" bzw. für den abszedierenden 6-Jahr-Molaren lediglich ein "Medikament" haben wollen? Brüllende Vierjährige mit 20 Wurzelresten, die von der begleitenden Mutter zur Beruhigung mit einem Schoko-Riegel tamponiert werden ( im Sprechzimmer!). Der Zahnarzt erinnert sich, stöhnend, an Altmeister Balters´ Ausspruch, man solle manchmal besser die Eltern behandeln und nicht die Kinder! - Ja, aber wie bloß, wie?
Erste Welt - Dritte Welt
Für die meisten Brasilianer ist es ohnehin schwer nachvollziehbar, daß jemand aus der dort tatsächlich so genannten "Ersten Welt" freiwillig nach Sao Paulo geht, um dann - ausgerechnet - in einer Favela zu arbeiten. Favelas, das sind die Wohnorte der Marginalisierten, der "Hemdlosen" (Descamisados): häßliche Ansammlungen windschiefer Holz- und Wellblechhütten. Man geht dort nicht hin. Man ist dort seines Lebens nicht sicher. - "Favela", das ist Gestank, Krankheit, Angst, Gewalt und Kriminalität.
Stimmt auch. Übersehen wird vielfach allerdings, daß von Gewalt und Elend in erster Linie diejenigen Menschen betroffen sind, die in der Favela leben müssen, die viel gescholtenen "Favelados" selbst. - "Meine Hütte mal´ ich nicht, die ist häßlich, da passen zehn Menschen ´rein ", hat Ricardo gesagt, ein Zehnjähriger aus einem Kindergarten der Peinha, einer der zwei Favelas in Sao Paulo, die von unseren Ambulatórium betreut werden. Ricardo "wohnt" noch bei seinen Eltern. Über eine Million Kinder in Brasilien dagegen bevorzugen die Strasse. Viele kehren nur nachts zum Schlafen in die Favela zurück, andere haben sich endgültig von den Familien getrennt, die ihnen keinerlei Halt bieten können. 424 von ihnen sind allein in der Zuckerhut-Stadt Rio im vergangenen Jahr erschossen worden, allen staatlichen Schutz-beteuerungen zum Trotz; in der ersten Hälfte dieses Jahres waren es schon 320. Brasilien ist mit Sicherheit nicht das ärmste, aber das "noch vor Botswana, Guinea und Indien ungerechteste Land der Erde", wie das größte brasilianische Nachrichtenmagazin "VEJA" (09.06.93) konstatiert. Es koexistieren in diesem schuldengeplagten Land erste, dritte und vierte Welt, manchmal nur durch eine Strasse getrennt. - Unter anderem auf Fortbildungsveranstaltungen der Zahnärzteschaft in Sao Paulo konnte ich mich von dem prinzipiell hohen Niveau der brasilianischen Zahnheilkunde überzeugen; während jedoch auf der einen Seite hochspezialisierte, an Nordamerika und Europa orientierte Implantologen Hi-Tech auf Dollarbasis offerieren, ist ein großer Teil der Stadtbewohner mit seinem von der Inflation (1992: 1157% ! ) ständig weiter entwerteten Minimallohn noch nicht einmal in der Lage, eine einfache Amalgamfüllung zu bezahlen, geschweige denn mehrere... .
Für uns Europäer ist es immer wieder erstaunlich, wie weit die Sprach-, ja Verständnislosigkeit zwischen den Schichten dieser gespaltenen Gesellschaft geht: fast hat es den Anschein, als sei die tiefe Kluft für uns, von außen, leichter zu überwinden, als bedürfe es immer wieder der Anstöße von außen, um Veränderungen im Inneren zu bewirken. - "Demokratie ist ohne soziale Gerechtigkeit nicht denkbar", schreibt der langjährige ZDF-Südamerikakorrespondent Rolf Pflücke, und diesen Satz kann man wohl - mit allen Konsequenzen - ganz schlicht so stehen lassen. Jedenfalls war und bin ich der Ansicht, daß die "gestiegene Verantwortung Deutschlands in der Welt" sich nicht allein in der Diskussion militärischer Einsätze erschöpfen kann.
Wo soll man beginnen?
Seit über zehn Jahren wird in Sao Paulo versucht, eine menschliche Antwort auf das Problem der weltweit wachsenden Elendssiedlungen zu geben. Ausgehend von der Privatinitiative einer Waldorf-Lehrerin wird dort durch einen deutsch-brasilianischen Verein (Associacao Comunitária Monte Azul, ACOMA - link) versucht, gemeinsam mit den etwa 5000 Bewohnern der Favelas Monte Azul und Peinha die Lebensbedingungen möglichst umfassend zu verbessern und so einen Weg aus der Diktatur des Kampfes um das nackte Überleben zu ermöglichen.
Als ich, Student noch und von der akademischen Hampelei zwischen Doktorarbeit, Kreuzchenklausur und Unterfüllungsfinieren am Phantomkopf etwas gereizt, vor fünf Jahren von dieser Arbeit erfuhr, lockte mich die Aussicht, nach dem Studium einen zahnärztlichen Auslandsaufenthalt in ein entwicklungsförderndes Gesamtprojekt eingebettet zu sehen, in dessen Rahmen zum Beispiel die Maßnahmen gegen Verwurmung von Kleinkindern nicht mit dem Flagyl-Rezept enden, sondern ihre Fortsetzung finden in der konsequenten Sanierung der hygienischen Wohnverhältnisse (durch Eigeninitiative der Bewohner!). Ein Projekt, in dem u.a. auch versucht wird, in Kindergärten mit Kleingruppen gezielt die Individualität jedes Kindes zu fördern, auch im ärmsten Menschen das Göttliche zu achten und so der Entwertung menschlichen Lebens entgegen zu wirken. Kriminalität und Gewalt sind eben nicht allein die Folge von Armut oder sogar Hunger, sondern in mindestens ebensolchem Maße die Folge von Geistlosigkeit, Folge der totalen Negation kultureller Werte.
Arbeit vor Ort
Nachdem ich mir im ersten Jahr meiner Assistentenzeit während eines zunächst dreiwöchigen Aufenthaltes ein Bild von den Arbeitsbedingungen in dem vor Ort bestehenden Ambulatórium gemacht hatte, in dessen Rahmen Besuche bei freiwillig tätigen Ärzten, Familienplanung, Schwangerschaftsvorsorge, Geburten, Laboruntersuchungen, zahnärztliche Behandlung sowie Physio-, Sprach- und Kunsttherapie ermöglicht werden, begannen in Deutschland gezielte Vorbereitungen zur möglichst vollständigen Aus- und Aufrüstung des vorgefundenen Behandlungsraumes, um mir, meinen eventuellen Nachfolgern (und den Patienten!) ein möglichst schonendes und optimales Behandeln zu ermöglichen. An dieser Stelle sei mein herzlicher Dank an mehrere unterstützende Firmen und Privatpersonen ausgesprochen, von denen ich hier insbesondere die deutsche und die brasilianische KULZER AG, die Firmen DE TREY und LEGE ARTIS, Herrn Dipl.Ing. A. Maier Apparatebau, Dr. Schneider und Dres. Polley, die St.Nikolai-Gemeinde Hamburg-Harvestehude sowie die Hamburger Dental-Handelshäuser NORDENTA und POULSON erwähnen möchte.
Geht es dann endlich los, muß man sich natürlich in technischen Details immer noch anpassen. Schnell lernt man zum Beispiel, bei 30 Grad Innentemperatur die Glasplatte für Phosphatzement mit Kältespray zu kühlen (war halt schnellhärtender Wupptidont in der Sachspende...), die vergoldete Stahl-Akupunkturnadel zur Würgereiz-Unterbrechung durch eine einfache Spritzenkanüle zu ersetzen (und siehe: es wirkt!) sowie mit IRM-Zement, TMS-Stiften und Amalgam preiswerten Vollkronenersatz zu kreieren. IRM ist wirklich das bei weitem Beste, das die Amerikaner in achteinhalb Jahren Vietnamkrieg auf die Beine gestellt haben: auch nach einem Jahr noch in situ, viel leichter zu verarbeiten als ZNO und mit schneidenden Hartmetallschleifern auch gut und nicht schmierend entfernbar (warum sagt einem das eigentlich keiner an der Uni?).
Bewußtseinsfragen
Kostenlos waren unsere Bemühungen für die Patienten nicht. Zwar entfielen Zahnarzthonorar und Praxismiete ganz, Material- und Gerätekosten weitgehend, aber Zahnheilkunde bleibt eben auch so ein teurer Spaß, der bezahlt werden will. Außerdem hat eine Medizin, die völlig umsonst ist unseres Erachtens entscheidende Nachteile für das Gesundheits-Bewußtsein auch armer Patienten (wem sage ich das?). Wir nahmen also für Zahnfüllungen umgerechnet 3-7 DM, für Extraktionen 3-6 DM (gleicher Preis, um dem ortsüblichen "Zahn krank - Zahn ´raus!" den finanziellen Anreiz zu nehmen). - Man halst sich allerdings mit dem Versuch, diese Bezahlung auch in Härtefällen sozial verträglich zu gestalten (mehrere Füllungen bei einem Patienten!) und dennoch in möglichst allen Fällen gerecht zu bleiben (Abusus!) eine Menge Arbeit auf, die bei grundsätzlich kostenloser Behandlung entfiele. Wir haben es aber aus den o.a. Überlegungen und Notwendigkeiten heraus trotz Rückschlägen immer wieder neu versucht.
Auch habe ich das Bestell-System trotz anfänglicher Mißerfolge zumindest teilweise beibehalten: Der durch das enge Beieinanderwohnen mögliche intensive Patientenkontakt verlangte diese Behandlungsform geradezu! (In ländlichen Praxen mit großem Einzugsgebiet mag das anders aussehen...) - Wir haben lange experimentiert, bis mit einer Mischung aus Warteliste und Vergabe schnell aufeinander folgender Sanierungstermine das Problem der nicht eingehaltenen Termine bei gleichzeitigem Massenandrang gelöst war, ohne in eine unbefriedigende Flickschuster-Zahnheilkunde mit Stau im Wartezimmer abzugleiten. - Auch bewährte es sich, komplizierte Extraktionen gesammelt auf einen Chirurgie-Nachmittag zu verlegen, um so den besonderen Erfordernissen besser Rechnung zu tragen und hektische Situationen im Alltag zu vermeiden.
Insgesamt zeigte meine Privat-Statistik ein im Laufe der Zeit sehr konstant bleibendes Verhältnis gezogener Zähne zu gelegten Füllungen von 1:10, trotz z.T. desolater Gebißverhältnisse. Im Nachhinein bin ich mir allerdings nicht ganz sicher, ob die Extraktion stark angegriffener Molaren nicht doch häufiger indiziert gewesen wäre! Da jedoch auch einfacher prothetischer Ersatz finanziell oft nicht in Frage kam, war ich mit endodontischen Versuchen relativ großzügig. - Meine Nachfolger werden entscheiden, ob ich zu großzügig war...
Wer sich bemüht, unter solchen Bedingungen sein Bestes zu geben, d.h. so gut es eben geht, hat eine gehörige Portion Frustrationstoleranz natürlich besonders nötig: Langsam sammeln sich all die unverdauten Fragen und Probleme an, verdichten sich plötzlich zur kritischen Masse und werden prinzipiell - meine Erfahrung ist, daß es ohne eine kontinuierlich-begleitende geistige Arbeit nicht geht. Müde wird und mürbe, wer nicht ständig sehr genau weiß, was er denn eigentlich erreichen will, und warum. "Rein humanitär trägt das nicht durch", sagt Ruth Pfau, Lepraärztin in Pakistan mit christlichem Hintergrund. - Ich glaube, sie hat recht.
Aussicht
Inzwischen arbeiten vier brasilianische Behandler zeitweise im Ambulatórium, zwei Studenten und zwei Zahnärzte. Vielleicht tragen meine Bemühungen um eine ordentliche Ausstattung des Ganzen ja dazu bei, daß sie länger dabei bleiben. Ich hoffe es sehr. Auch eine individuell abgestimmte Fissuren-Versiegelung für die über 500 Kindergarten-Kinder der ACOMA ist jetzt denkbar geworden und in Angriff genommen.
Schließlich habe ich versucht, das Problem des billigen Grundnahrungsmittel-Ersatzstoffes Zucker anzugehen (über 60kg/Kopf/Jahr sind keine Seltenheit, Limonaden und andere versteckte Quellen noch nicht eingerechnet!). Da durch die "hauseigene" Hebamme Schwangere einen erheblichen Anteil der Patienten stellten, entschloß ich mich, als "Abschluß-Arbeit" ein einfach gehaltenes Merblatt für werdende Mütter zu erstellen, das in portugiesischer Sprache und mit Zeichnungen Hinweise zu Ernährung und Zahnpflege geben soll. - "Jedes Kind ein Zahn!" scheint auch in Brasilien felsenfeste Überzeugung zu sein; ich denke aber, daß die Schwangerschaft einer der Zeitpunkte im Leben ist, an dem alte Denkgewohnheiten am ehesten durchbrochen werden und Informationen zur Gesundheit am leichtesten Gehör finden können. Mit Unterstützung der brasilianischen Tochter der WELEDA-Arzneimittelbetriebe sollen diese Informationen nun auch über meinen begrenzten Wirkungsbereich in der Favela Monte Azul hinaus Verbreitung finden.
Ich selbst habe mich am Ende meines Aufenthaltes in Brasilien etwas aus dem Ambulatórium zurückgezogen und mich zur Abwechslung mit einem neuen Projekt beschäftigt, ganz ohne Zähne diesmal: am 15.Mai nämlich wurde, mit liebevoller Unterstützung durch unsere Hebamme Angela, in die Riesenstadt Sao Paulo hinein unser Sohn Emanuel geboren... - Du hast es mir nicht immer leicht gemacht, Brasilien! Trotzdem: Vielen Dank!
Dr. Rudolf Völker
Associação Comunitária Monte Azul (ACOMA):
*
220 angestellte Mitarbeiter, weitere 100 ehrenamtliche Helfer aus Brasilien und dem Ausland Pädagogische Betreuung für 1200 Kinder, inclusive 80 Behinderte Kulturelle Arbeit für 500 Menschen in Kursen und künstlerischen Gruppen Kulturzentrum mit regelmäßigen Veranstaltungen und Bibliothek Curricula für berufliche und soziale Weiterbildung, Alphabetisierungskurse 3500 Behandlungen im Monat im Gesundheitszentrum Verwaltende Gesundheitsversorgung im Stadtteil als Teil eines staatlichen Förderprogrammes für die Versorgung unterprivilegierter Bevölkerungsschichten Ausbildungswerkstätten: Zwei Schreinereien, 1 Bäckerei, 1 Werkstatt für Papierrecycling und 1 für Möbelrestauration,1 Puppenwerkstatt Projekt für Umwelterziehung und Mülltrennung * Finanzierung: Gelder (z.B. für Kindergartenplätze) der Stadt Sao Paulo; Einnahmen aus Dienstleistungen und Produktverkauf; Beiträge der Vereinsmitglieder, einiger Firmen und Institutionen; Patenschaften und Spenden
Spenden an: Konto Verein der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V. Weinmeisterstraße 16, 10178 Berlin ( http://www.freunde-waldorf.de/) Postscheckkonto: 3 98 00 - 704 Stuttgart (Vermerk: Monte Azul, 4720), BLZ 600 100 70
Kibra – Kinderzahnhilfe Brasilien im Bundeskanzleramt ausgezeichnet – Nachhaltigkeit des Konzepts überzeugt –
Beim diesjährigen Startsocial Wettbewerb der deutschen Wirtschaft unter der Schirmherrschaft von Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde die Kinderzahnhilfe Brasilien, kurz Kibra, in Berlin für die Idee der individualisierten zahnärztlichen Gruppenprophylaxe für arme Kinder in Entwicklungs- und Schwellenländern ausgezeichnet. In verschiedenen humanitären Arbeitseinsätzen in brasilianischen Armenvierteln (Favelas) in den Jahren 2006 und 2007 hatte der Karlsruher Zahnarzt Dr. Norbert Lehmann die Erfahrung gemacht, dass es auf der einen Seite genügend gut ausgebildete brasilianische Zahnärzte, auf der anderen Seite aber auch Millionen von armen Kindern gibt, deren Eltern kein Geld für eine zahnärztliche Behandlung ihrer Kinder aufbringen können. Die Folge daraus ist, dass die Zahngesundheit der Kinder aus den Favelas sehr schlecht ist.
Die Frage war also, wie kann man beide Seiten zusammenbringen, sodass der Zahnarzt von seiner Arbeit leben und der Arme diese Leistung bezahlen kann. Denn erst dann ließe sich das Kriterium der Nachhaltigkeit, das für Lehmann im Vordergrund steht, erfüllt sein. Ideal wäre eine Methode, die gleichzeitig eine Ergebnis- und eine Kostenkontrolle ermöglichte. Mit einem solchen System könnten dann prinzipiell überall auf der Welt die Kinder aus den ärmsten Bevölkerungsschichten eine zahnärztliche Versorgung erhalten. Dafür kam nur eine Kombination aus Prophylaxe und zahnärztlicher Behandlung infrage. Durch eine vorgeschaltete kontrollierbare Gruppen- beziehungsweise Massenprophylaxe würden sich die Kosten so stark senken lassen, dass das System für die Armen bezahlbar wird.
Wie kann man also dafür sorgen, dass „der kleine José“ aus einem beliebigen Armenviertel regelmäßig zu den Prophylaxemaßnahmen wie Putztraining, Plaquekontrolle, Fluoridierung etc. oder zu zahnärztlichen Behandlungsmaßnahmen erscheint, um damit das Kariesrisiko und die Kosten des Systems statistisch signifikant senken zu können? Dies wurde mit der Entwicklung zweier Kommunikationskreise möglich. Einen, um in der Favela die Kinder zu erreichen, und einen, um das ganze System zu kontrollieren.
In einem Armenviertel ist Kommunikation per Post, Handy oder stationärem Telefon nicht oder nur eingeschränkt möglich. Entweder haben die Menschen dort gar kein Telefon oder, falls sie eins haben, sind die Anschlüsse oft gesperrt, da die Telefonrechnungen nicht bezahlt werden konnten. Trotzdem gibt es eine ganz einfache, billige und sicher funktionierende Kommunikation innerhalb dieser Viertel: Die Menschen leben so eng aufeinander, dass jeder jeden kennt. Will jemand eine Nachricht verbreiten, läuft er laut schreiend durch die enge Gassen. Jeder kann die Neuigkeit hören, egal, ob sie ihn betrifft oder nicht.
So wurde die Idee der Mütterteams geboren (siehe Grafik). Jedes Team besteht aus fünf Müttern. Jede Mutter ist für eine Anzahl von Kindern verantwortlich. Sie weiß, wo die Kinder wohnen und wie die Verhältnisse zu Hause sind und kann somit schnell und effizient reagieren. Ist der Kommunikationspartner eine Schule, übernehmen die jeweiligen Lehrer die Aufgabe der Mütter. Lehrer und Mütter werden zweimal jährlich durch die Kibra-Zahnärzte in sogenannten Mütterworkshops geschult, was die Compliance weiter erhöht.
Der zweite Kommunikationskreis wurde entwickelt, um das System zu steuern und zu kontrollieren. Gemeinsam mit dem Karlsruher IT-Spezialisten Reinhard Vollmannshauser wurde eine internetbasierte Datenbank entwickelt (siehe Grafik). Mit dieser können alle für Kibra relevanten Daten von jedem Ort der Welt abgerufen werden. So werden beispielsweise alle Maßnahmen aus allen Kibra-Projekten in Brasilien von Karlsruhe aus kontrolliert und gesteuert. Praktisch läuft dies so ab, dass zu Beginn eines Projekts alle Kinder mit ihren persönlichen Daten sowie mit DMF-T-Index (dmf-t) und mit dem individuellen Kariesrisiko in die Datenbank aufgenommen werden. Aufgrund dieser Daten wird jedes Kind einem bestimmten Prophylaxeschema zugeordnet. Kinder mit hohem Kariesrisiko werden einem anderen Prophylaxeprogramm zugeteilt als Kinder mit geringem Risiko. So sind beispielsweise die Frequenz des Putztrainings sowie die Frequenz und die Konzentration der Fluoridierungsmaßnahmen individuell auf das Kariesrisiko des jeweiligen Kindes abgestimmt. Kommt der kleine José also nicht zu einem vereinbarten Gruppen-Fluoridierungstermin, fällt dies am Bildschirm in Karlsruhe auf. Von dort geht die Nachricht zu der entsprechenden Zahnarzthelferin vor Ort, die wiederum die verantwortliche Mutter oder Lehrerin informiert – am Ende wird der kleine José erstaunt sein, dass sein Fehlen aufgefallen ist.
Jährlich wird der Status durch eine klinische Untersuchung neu aufgenommen. Auf der Grundlage dieser Daten lässt sich genau berechnen, wie sich der Anfangsbefund verändert. Der Anfangsbefund aller bisherigen Kibra-Projekte lag statistisch bei 70:30. Das heißt, bei 70 Prozent der Kinder wurde beim ersten Status Karies festgestellt, nur 30 Prozent waren kariesfrei. Innerhalb von zwei Jahren soll dieser Befund in ein Verhältnis von 30:70 gedreht und stabil gehalten, wenn möglich noch verbessert werden. Aber bereits ab der Relation 30:70 ist eine komplette zahnärztliche Versorgung (Prophylaxe und zahnärztliche Behandlung) der Kinder für zwei Brasilianische Real (0,7 Euro) je Kind und Monat durchführbar. Dies ist ein Betrag, der selbst von der armen Bevölkerungsschicht aufgebracht werden kann.
Mit der Datenbank lassen sich also nicht nur die zahnmedizinischen Maßnahmen überwachen, sondern sie ist unabdingbar für die Aufrechterhaltung der Bezahlbarkeit des Systems. Geplant ist, dass alle Projekte nach einer Initialphase von zwei Jahren Dauer von den Eltern der armen Kinder selbst finanziert werden sollen. Damit wird es möglich, dass die Armen zum ersten Mal selbst ein vollwertiges zahnärztliches Gesundheitssystem für ihre Kinder aufbauen und unterhalten können. Dadurch ist die Nachhaltigkeit gegeben. Um dieses Konzept konsequent weiterentwickeln zu können, hat die Zahnärztekammer Rio de Janeiro Kibra als erste und einzige Organisation ermächtigt, Prophylaxehelferinnen auszubilden. In Zusammenarbeit mit dem Franziskanerorden wird Kibra ab dem Frühjahr 2011 eine Ausbildungsstätte eröffnen, in der junge Frauen aus den Favelas diesen Beruf erlernen können.
Um das Konzept weiter entwickeln und verbreiten zu können, sucht Kibra noch Zahnärzte als Mitglieder sowie Zahnärzte als Projektpaten, die einzelne Projekte betreuen möchten. Darüber hinaus gefragt: die Zusammenarbeit mit anderen zahnärztlichen Organisationen, die Projekte im Ausland haben, Geräte und Instrumente (aktuell: eine Saugmaschine für zwei Stühle, gut erhaltene Einheiten, Turbinen und Mikromotoren, UV-Lampen, Rö-Entwickler) sowie Altgoldspenden. Weitere Informationen über die Arbeit und Ziele der Kibra gibt es im Internet unter www.kibra.org.